Willenlos
Wagen zwei Tage vor der Tat vollgetankt. In Meerbusch hatte er direkt nach der Tat sechs Liter nachgetankt. Sieh dir die Übersicht an, das passt nicht zu ihm. Ich habe vor wenigen Minuten mit seiner Frau telefoniert. Udo Hornbach hat penibel jede Ausgabe noch am selben Tag in seiner Buchführung vermerkt, diese nicht.«
Karin stand hinter Jack und überflog die Auflistung noch einmal. Joshua hatte recht, es war völlig untypisch. Aber nun mal Fakt, das Foto wurde von Hornbach bestätigt, Ort und Zeitpunkt stimmten ebenfalls.
»Sieht beinahe aus, als wollte Hornbach diesen Beweis«, grübelte Jack.
»Scheint, es steht ein besonders dreckiger Mordfall an«, fügte Joshua nachdenklich hinzu, der nicht mehr daran glauben konnte, dass der DNA-Vergleich Übereinstimmung mit Hornbach bringen würde. Jack war sofort bewusst, was das bedeutete.
»Ich halte euch den Rücken frei.«
10
Carmen gab Bescheid, sie wollte die Nacht bei ihrem Freund verbringen. Robin war nach dem Abendbrot noch für eine Stunde mit seinen Freunden weggefahren.
Karin setzte sich mit einem Glas Wasser in der Hand in den Sessel. Wie konnte das passieren, dachte sie. Warum hatte sie ihren Gefühlen derart wehrlos nachgegeben? Sie sah seine Augen vor sich, hellblau und so klar wie ein See in den Bergen. Die zärtlichen Berührungen der weichen Hände hatten für wohligen Schauer gesorgt, der wie ein leichter Strom durch jeden Winkel ihres Körpers floss. Das Gefühl, begehrt zu werden, lag irgendwo in den Tiefen ihres Herzens begraben. Nicht tief genug, um den Blicken und Berührungen auszuweichen. Wie ein warmer Sommerwind, der ihre Haut streichelte, kamen ihr seine Zärtlichkeiten vor. Sie konnte nicht anders, hatte sich fallen lassen, war längst eingetaucht in ein Abenteuer mit unbestimmtem Ausgang. Nachdenklich trank sie einen Schluck. Sie unterdrückte das leise warnende Gewissen, hielt es mit einer Kette aus Argumenten im Zaum. Den Job erledigte sie gewissenhaft, war immer da, wenn sie gebraucht wurde. Flexibilität lautete das Zauberwort. Für Karin nicht mehr als die moderne Umschreibung der Bereitschaft, harmonisches Familienleben ganz unten auf die Prioritätenliste zu setzen. Sie brachte den Spagat fertig, Robin und Carmen fehlte es an fast nichts. Den Haushalt erledigte sie nebenher und zwischendurch. Sie funktionierte, alles funktionierte, sie könnte rundum zufrieden sein, gäbe es nicht die Nächte in der linken Hälfte des Doppelbetts. Die Gedanken an Joshua, Jack und all die anderen, die in den Armen ihrer Partner lagen, sich Geschichten vom Tag erzählten, einander berührten oder einfach nur da waren. Manchmal im Halbschlaf schlich sich ihre Hand rüber ins andere Bett und griff ins Leere.
Und plötzlich steht er vor mir, aus dem Nichts kommend. Ein Mann, wie geschaffen aus den Sehnsüchten einsamer Nächte. Und er begehrt mich, betet mich an, kann sein Verlangen nicht zurückhalten. Karin spürte ein Kribbeln, das sich langsam und wohltuend in ihrem Körper ausbreitete.
Was sollte sie machen? Ihn zurückweisen? Tut mir leid, Herr Gerster, ich bin dienstlich hier. Wer wollte diese vielleicht entscheidende Chance wieder gutmachen, die Polizei etwa? Mit einem zusätzlichen Scheck zum nächsten Gehalt für unerwiderte Gefühle? Nein – sie konnte nicht anders.
Der Traum wurde langsam von einem Nebel überzogen, Konturen verschwanden. Angestrengt bemühte Karin sich, die Bilder festzuhalten. Ihr Gewissen löschte den Film, glitt wie ein Schwamm durch das Bewusstsein, zwang sie in die Realität zurück.
Sie hatte Ulf Gerster dienstlich aufgesucht. Der Pädagoge, der die Fächer Sport und Mathematik unterrichtete, war, wenn auch nur am Rande, in den Ermittlungen aufgetaucht. Der bloße Gedanke daran, eklatant gegen die Dienstvorschriften zu verstoßen, stieß ihr bitter auf. Aber was, wenn die Gefühle sie benebelten, ihre Beziehung von Anfang an zum Scheitern verurteilt wäre? Karin bemühte sich um Sachlichkeit, darum, Emotionen zu unterdrücken, bevor sie darunter verschüttet würde.
Karin benötigte Klarheit. Für ihren Job und sich. Ulfs Ehefrau kam ihr in den Sinn. Er erwähnte, Renate Gerster sei vorübergehend in das Haus ihrer Eltern nach Meerbusch gezogen. Innerlich aufgewühlt blätterte sie im Telefonbuch. Dummerweise war ihr der Mädchenname der Frau nicht bekannt. Der Name Gerster war viermal eingetragen. Sie hoffte auf Verwandte, die ihr weiterhelfen konnten. Beim vierten Telefonat bekam sie
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