Willenlos
hatte, war überall im Raum fühlbar. Joshua hatte die Konsequenz der für ihn feststehenden Serientat nicht überdacht. Möglicherweise hatte sein Bewusstsein diese auch nur verdrängt. Aus Angst, die mächtige Faust der Zeit im Nacken zu spüren. Da das Motiv noch im Unklaren lag, konnten auch keinerlei Rückschlüsse über den potenziellen Kreis der Opfer gezogen werden.
»Ich habe René Wollmann um Unterstützung gebeten«, meldete sich Jack in einem Tonfall, der die Anwesenden wohl beruhigen sollte. Bei Joshua erreichte er damit das genaue Gegenteil. Der Fallanalytiker vom Bundeskriminalamt wurde meist dann hinzugezogen, wenn die Befürchtung im Raum stand, bei dem Täter könne es sich um einen durchgeknallten Psychopathen handeln, auch wenn Wollmann seinen Job gern anders definierte. Wollmanns Aufgabe war es in erster Linie, Rückschlüsse auf Motiv und Psyche des Täters zu liefern. In Joshuas Augen war er nicht mehr als ein beamteter Kaffeesatzleser. Ihn beunruhigte Jacks unterschwellig geäußerte Vermutung, der Täter könne einen grundsätzlichen Hass auf die Justiz oder eine spezielle Gerichtsbarkeit entwickelt haben und deren Vertreter somit planlos auswählen.
»Ich glaube nicht, dass Wollmann uns weiterhelfen kann«, wehrte Joshua ab, »welche Personen sind an einer Gerichtsverhandlung beteiligt? Ein Richter, ein Staatsanwalt, ein Verteidiger, die Schöffen, Zeugen und Sachverständige. Wer sind die bisherigen Opfer? Ein Richter, ein Staatsanwalt, drei Schöffen. Nicht etwa zwei Richter oder zwei Staatsanwälte. Nein, ich denke, es geht um eine bestimmte Verhandlung. Damit würde auch das Motiv auf der Hand liegen: Rache.«
»Das kann Zufall oder kalkulierte Absicht sein«, meldete sich Gamerschlag, »wir haben nur Vermutungen, wissen noch nicht einmal, ob Opfer und vermeintliche Täter tatsächlich an einer Verhandlung beteiligt waren.«
Joshua verzog das Gesicht. Ihm gefiel Gamerschlags Formulierung nicht. Aus seiner Sicht gab es keine vermeintlichen Täter, sondern sechs Opfer und einen skrupellosen Mörder. Eine Frage hatten bislang alle übersehen.
»Welche Rolle spielte Klaus Dahlmann?«, warf Daniel ein.
»Stimmt!«, rief Karin, »daran haben wir noch gar nicht gedacht. Wir benötigen alle Prozesse, zu denen Dahlmann als Zeuge geladen worden war.«
Gamerschlag wollte auch diesen Part übernehmen. Die wichtigste Frage war noch ungeklärt. Jack bat um Ruhe.
»Thalbach wurde verurteilt, Hornbach steht kurz davor, List befindet sich aufgrund erdrückender Indizien in Untersuchungshaft. Die Beweise sind so perfekt manipuliert, dass sie sogar vor Gericht standhalten. Die Frage stellt sich, wie hat der Täter das geschafft?«
Wachmann stellte die Möglichkeit der Erpressung in den Raum, erntete dafür zaghaftes Gelächter. Davon ausgehend, dass kaum alle Opfer erpressbar waren, war ein Mord aus diesem Beweggrund nicht vorstellbar. Die einzig verbliebene halbwegs haltbare These besagte, der Täter habe seine Opfer mit Waffengewalt zur Tat gezwungen. Karin glaubte nicht daran.
»An den Tatorten, beziehungsweise in deren mittelbarer Umgebung, gab es mit Ausnahme der beiden an der Tat beteiligten Personen keine tatübergreifenden identischen Fußspuren. Der Täter müsste demnach also einen relativ großen Abstand eingehalten haben, was mit einem Gewehr selbstverständlich denkbar wäre. Aber es passt nicht.«
Karin erhöhte mit einer kleinen Pause, in der sie einen Schluck Wasser trank, die Spannung.
»Der psychische Druck, dem die Opfer bei Ausübung der Tat ausgesetzt waren, war enorm hoch. Dazu noch die angesprochene Bedrohung. Ich kann es zwar nicht beweisen, bin aber davon überzeugt, dass Udo Hornbach zum Beispiel nicht einmal das Messer hätte halten können, geschweige denn, die Tat ausüben, sprich einem erfahrenen Polizisten die Kehle durchschneiden.«
Im Publikum war breite Zustimmung erkennbar. Joshua konnte sich vorstellen, dass ein Mensch von panischer Angst um sein Leben getrieben, dazu bereit wäre, jemand anderen zu töten. Eine abgewandelte, aber denkbare Art der klassischen Notwehr. Die Tatorte hätten wesentlich weiträumiger als geschehen nach Spuren abgesucht werden müssen, ärgerte sich der Fahnder. Einer der Bochumer Kollegen brachte einen völlig neuen Ansatz in die Ermittlungen.
»Vielleicht wurden die Opfer mit Drogen beeinflusst? Wir hatten einen solchen Fall letzten Monat in einer Bochumer Diskothek. Kein Einzelfall übrigens. Mädchen wird die Droge
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