Willenlos
Vergangenheit, er meinte es absolut ernst mit dem Neuanfang. Karin küsste ihn zärtlich und für einen Augenblick verschwand Lisa aus ihrem Bewusstsein.
Carmen und Robin verzehrten einen Salat, Ulf stand an der Küchenzeile und goss Spaghetti ab. Neben der Spüle auf einer alten Zeitung lagen Tomaten- und Zwiebelschalen. Karin entsorgte den Abfall, küsste Ulf noch einmal flüchtig auf die Wange.
»Wie war dein Tag?«, fragte Carmen. In ihrem Mund verschwand eine Olive. Karin überging die Frage mit leichtem Nicken. Ob ihre Tochter mit Lisa Blankenagelreden sollte? Karin verwarf die Überlegung
Ulf hatte die CD eines italienischen Schmusesängers aufgelegt, einen Rotwein geöffnet. Er spürte, dass sie etwas bedrückte, hakte aber nicht weiter nach. Nach dem zweiten Glas hielt sie es nicht mehr aus. Lisa war allgegenwärtig, sie musste darüber reden. Ulf hörte ihr aufmerksam zu, am Ende nickte er verständnisvoll.
»Wir hatten einen ähnlichen Fall an unserer Schule. Ein paar Jungs aus der Zehnten hatten sich dieses Zeug besorgt. Das Mädchen war schon bis auf die Unterhose ausgezogen. Zum Glück geht unser Hausmeister noch einmal durch alle Räume, bevor er die Schule abschließt. Im Kopierraum hatte er sie gefunden. Wir haben sofort die Polizei eingeschaltet.«
Der gleichmäßige Tonfall deutete auf die Erfolglosigkeit der Aktion. Mit dem Glas in der Hand haftete Karins Blick auf seinen Augen.
»Das Zeug konnte im Körper des Mädchens nachgewiesen werden, nicht aber, wie es dort hineinkam. Die Jungen behaupteten, sie hätte es freiwillig genommen. Bei einem haben deine Kollegen was gefunden. Der Junge wurde nach dem Betäubungsmittelgesetz belangt, bekam eine kleine Geldstrafe und wurde von der Schule verwiesen. Den beiden anderen konnte nichts nachgewiesen werden, die sind weiterhin bei uns, sogar in derselben Klasse wie das Mädchen. Nach den Sommerferien wechselt sie die Schule. Sie – verstehst du? Nicht etwa die Jungen müssen einen Großteil ihres sozialen Umfeldes aufgeben, sondern ein unschuldiges Mädchen. Manchmal möchte ich einfach alles hinwerfen und was ganz Anderes anfangen.«
Karin überkam das Gefühl von Ohnmacht. Die Schule als Ort der Angst, ohne jegliches Vertrauen, Ungläubigkeit statt Hilfe. Sie hatte nicht mitbekommen, dass ihre Tochter ins Wohnzimmer gekommen war.
»Marco muss für eine Klausur büffeln, ich gehe mit Maggie noch irgendwo was trinken. Ich hab morgen Vormittag frei, kann später werden.«
»Nein!«
Karin bekam einen Hustenanfall. Carmen, die Türklinke in der Hand, drehte sich verwundert um.
»Bitte gehe nicht. Ich habe Angst.«
»Mutti! Ich bin 19, was wird das denn jetzt?«
Karin erzählte von Lisa, Carmen setzte sich auf die Lehne des Sofas. Nach den Beschreibungen der Polizistin handelte es sich um eine geradezu gemeingefährliche Bewusstseinsdroge, die im Begriff war, die Mehrheit der jungen Mädchen des Landes in Vergewaltigungsopfer zu verwandeln. Das ausbleibende Entsetzen und die im Gegenteil entspannte Mimik ihrer Tochter irritierten Karin. Nachdem sie ihren dramatischen Vortrag beendet hatte, stand Carmen nachsichtig grinsend auf, strich ihrer Mutter mit der Hand durch die Haare.
»Herzlichen Glückwunsch, Mutti. Du bist soeben der Superdroge ›Liquid Ecstasy‹ auf die Schliche gekommen, auch bekannt als K.O.-Tropfen. Wenn du möchtest, erzähle ich dir morgen was darüber.«
»Das ist nicht lustig.«
Karin s Augen verengten sich. Carmen hatte sie scheinbar nicht ernst genommen. Die Kollegen der Drogenfahndung klagten immer häufiger über den Einsatz von ›Liquid Ecstasy‹. Es war ihr bekannt, aber bisher so weit weg, dass sie sich nie damit beschäftigt hatte.
»Entschuldigung. Ist ja süß, dass du dir Sorgen machst. Aber das Zeug ist wirklich bekannt. Ich kenne niemanden, der sein Getränk in der Disse unbeaufsichtigt lässt.«
»Anscheinend werden wir alt«, warf Ulf ein. Karin sah ihrer Tochter hinterher. Im Türrahmen drehte sie sich noch mal um und warf ihr einen Kuss zu.
Nein, wir werden nicht alt. Karin dachte an Lisa Blankenagel und die Schülerin an Ulfs Schule.
31
Jack hatte überraschenderweise bereits für 11 Uhr die nächste Zusammenkunft terminiert. Karin und Joshua fuhren vorher ins rechtsmedizinische Institut der Heinrich-Heine-Universität. Die Obduktionen der Opfer hatten keinerlei Besonderheiten außerhalb der bekannten Todesursachen ergeben. Joshua wollte sich damit nicht zufriedengeben.
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