Willenlos
›Liquid Ecstasy‹ gehört?«
Lisa verdrehte die Augen, seufzte laut.
»Boah, ich nehme keine Drogen.«
Sie erinnerte Karin an Carmen. Ihre Tochter war nur wenige Jahre älter. Sie musste unbedingt die Blockade lösen.
»Diese Droge nimmt niemand freiwillig. Sie wird dir unauffällig ins Getränk geschüttet, ist absolut geschmacksneutral, aber sehr gefährlich. Sie sorgt für eine Kurzzeitamnesie, die Opfer verlieren ihr Bewusstsein, können sich später an nichts mehr erinnern. Bitte denk nach, ist dir oder deinen Freundinnen etwas aufgefallen? Bitte, es ist sehr wichtig.«
Karin erkannte kleine Falten auf der Stirn des Mädchens.
»Cindy hat mich angemacht, weil ich auf einmal verschwunden war. Sie behauptete, als sie von der Tanzfläche kam, war ich weg, fast eine halbe Stunde lang. Davon weiß ich nichts. Glauben Sie …«
Lisa bekam eine Gänsehaut, ihre Lippen begannen leicht zu zittern.
»Lisa, ganz gleich, was passiert ist, dich trifft keine Schuld. Kannst du dich an jemanden erinnern, eventuell eine Zufallsbekanntschaft?«
»Ich … ich hatte mich auf einmal so mies gefühlt. Da war dieser … merkwürdige Schwindel. Nein!«
Lisa bekam einen Weinkrampf. Sie benötigt dringend psychologische Betreuung, dachte Karin. Sie fühlte sich schuldig, hätte dieses Gespräch nicht ohne die Anwesenheit einer Ärztin führen dürfen. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie würde es ihr gerne ersparen, aber Lisa musste umgehend von einer Ärztin untersucht werden. Für die Ermittlung bräuchten sie die DNA des Täters. Karin fiel die Aussage des Bochumer Kollegen vom Nachmittag ein. Auch Lisa hatte, zum Glück für sie, keinerlei Verletzungen oder Spuren einer gewaltsamen Handlung. Der Nachweis einer Vergewaltigung dürfte äußerst schwierig werden, zumal die Aussage des Opfers fehlte. Karin rang mit ihrem Gewissen. Einerseits trieb sie der Drang, den Täter zu fassen, dafür zu sorgen, dass nicht noch weitere Opfer folgten. Andererseits wollte sie Lisa unnötige Demütigungen ersparen. Ein Vergewaltiger, der ihr lachend ins Gesicht sagen würde: ›Du wolltest es doch‹ und vor Gericht damit durchkommt, würde eine nie verheilende Wunde reißen. Verzweifelt suchte die Fahnderin den Königsweg. Resigniert musste sie sich schließlich eingestehen, dass es diesen nicht gab.
»Ich habe solche Angst vor der Abtreibung«, unterbrach Lisa die einsetzende Stille.
»Du bekommst eine örtliche Betäubung.«
Die Worte schmerzten Karin.
»Das meine ich nicht. Ich werde mir das ganze Leben Vorwürfe machen. Außerdem … ich fühle mich so schmutzig, so … benutzt. Wie ein alter Lappen, den man hinterher wegwirft.«
Wieder bahnten sich dicke Tränen den Weg über ihr Gesicht. Karin dachte angestrengt nach, sie fand keine Worte, die dazu in der Lage wären, ihr zu helfen. Der Gedanke war widerlich, dass sie letztendlich hier waren, um Aufschlüsse über ihren Fall zu gewinnen. Vergewaltigungen aufzuklären war nicht ihr Job, Lisa sollte Mittel für ihren Zweck sein. Karin hasste ihren Beruf.
»Glauben Sie, ich bin vergewaltigt worden?«
Karin fehlte der Mut für eine ehrliche Antwort.
»Blöde Frage«, verbesserte sie sich, »von irgendjemandem muss das Kind sein. Wer macht so was?«
Ihre Gestik verriet Entschlossenheit, die Worte klangen mit einem Mal beinahe erschreckend sachlich.
»Möchtest du, dass wir das herausfinden?«
»Ja.«
Karin klärte sie über das Ermittlungsverfahren auf. Zögerlich stimmte Lisa zu. Danach konfrontierte sie das Mädchen mit der möglichen Niederlage vor Gericht und der damit verbundenen Demütigung. Lisa riss die Augen weit auf. Karin konnte nicht erkennen, ob es sich um Wut oder Entsetzen handelte.
»Bedeutet das, weil ich keine Verletzungen abbekommen habe, bin ich auch nicht vergewaltigt worden?«
Aus Karins Sicht war das Mädchen schwer verletzt worden. Unsichtbare Narben, eine zerrissene Seele, lebenslängliche Albträume, all das war aber nicht vor Gericht verwertbar.
»Du brauchst einen sehr guten Anwalt. Dennoch musst du die Möglichkeit mit einschließen, dass der Täter nicht verurteilt wird. Schaffst du das?«
»Ich will wissen, wer mir das angetan hat.«
In den weit aufgerissenen Augen spiegelte sich Wut.
30
In der Küche fand Karin eine lange vermisste Idylle vor. Sie hatte Robin und Carmen nicht allein lassen wollen und Ulf hergebeten. Eine Geste, die dazu beitragen sollte, ihr Vertrauen unter Beweis zu stellen. Für Ulf schien der Einbruch
Weitere Kostenlose Bücher