Willenlos
legte auf. Er stützte das Gesicht in seine Hände, fühlte sich benommen.
»Was ist passiert?«
Janine, von dem Krach wach geworden, stand neben ihm, streichelte seine Haare.
»Ein Häftling hat sich umgebracht. Es ist meine Schuld.«
»Joshua, rede dir so was nicht ein. Weshalb sollte es deine Schuld sein?«
»Ich habe ihn so sehr in die Enge getrieben, dass er keinen anderen Ausweg mehr sah.«
»Dich trifft keine Schuld.«
Karin bemerkte Joshuas Gefühlszustand sofort. Die Nachricht hatte sich im LKA wie ein Lauffeuer verbreitet. Bornmeier war bereits auf dem Weg zu ihnen.
»Das glaubst du nicht wirklich, Karin.«
»Doch. Ich habe darüber nachgedacht. Ulrich Bartram hatte die Wahl zwischen lebenslänglich bei Geständnis oder der Rache seines Bruders. Das ist ihm heute Nacht klar geworden. Dazu brauchte er dich nicht.«
Joshua kam nicht dazu, über Karins Worte nachzudenken. Schwungvoll wurde die Tür aufgerissen. Der Staatsanwalt hatte nicht einmal die Zeit gefunden anzuklopfen.
»Gratuliere, Trempe. Ein eindeutigeres Schuldeingeständnis kann es nicht geben. Der Fall ist abgeschlossen.«
Joshua sah Bornmeier schockiert an. Der Staatsanwalt meinte es noch nicht einmal ironisch. Er war jede einzelne Minute der Verhöre im Nebenraum dabei, hatte alles mitbekommen. Während Joshua die harte Gangart mittlerweile bereute, gratulierte Bornmeier zum Tod des Hauptverdächtigen. Joshua wurde übel.
»Herr Bornmeier, wir haben kein Geständnis!«
Karin konnte die Freude des Staatsanwaltes nicht nachvollziehen.
»Ich bitte Sie, Frau Seitz, der Selbstmord spricht für sich.«
»Aber nicht für Ihren Freund List«, bemerkte Joshua trocken. Bornmeiers Mundwinkel sackten ab. Seine Augen wanderten zwischen Karin und Joshua hin und her.
»Sollten nur die geringsten Zweifel an ihrer Schuld bestehen, können sie nicht verurteilt werden.«
Eine Spur Unsicherheit klang aus seinen Worten. Bornmeier wirkte irritiert.
»Und welche gerichtlich verwertbaren Zweifel sollen das bitteschön sein?«
Bornmeiers Lippen formten sich zu einem schmalen Strich. Er lockerte seine Krawatte.
»Dann finden Sie Beweise!«
»Tote reden nicht mehr, Herr Staatsanwalt.«
»Danke für den Hinweis, Trempe. Durchforsten Sie sein Umfeld, durchsuchen Sie alles noch einmal. Irgendein Indiz muss es geben!«
»Sehr wohl, Herr Staatsanwalt.«
Joshua deutete eine Verbeugung an. Bornmeier holte tief Luft, stockte kurz und verließ das Büro mit einem lauten Knall der Tür.
»Der spinnt doch!«, ereiferte sich Karin.
»Wo fangen wir an?«
Daniel, der sich bislang dezent zurückgehalten hatte, sah die Kollegen genervt an.
»Ich weiß es nicht«, resigniert fiel Joshua auf seinen Stuhl, »wir müssen einem Toten die Schuld nachweisen.«
56
Leon Bartram öffnete an diesem Morgen entgegen seiner sonstigen Gewohnheit nicht zuerst die Fenster. Seitdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war, machte er jeden Morgen als Erstes, noch bevor er ins Bad ging, alle Fenster weit auf. Er bildete sich ein, die Freiheit würde auf diese Weise mit jedem Atemzug durch seinen Körper ziehen. Er genoss den Lärm der spielenden Kinder an der Straße, das Geräusch der vorbeifahrenden Autos, die Gespräche der Nachbarn. Er schmeckte, hörte und roch die Freiheit in vollen Zügen, war mittendrin, ein Teil von ihr. Nur am Tag waren die Narben unsichtbar, nicht zu fühlen. In den Nächten war er immer noch eingesperrt, träumte vom leuchtenden Vollmond, über den sich dunkle Stäbe zogen. Jeden Morgen um sechs wurde er wach vom Geräusch eines sich drehenden Schlüssels, öffnete die Augen vorsichtig, um sich an den grellen Schein der Neonlampe in der Zelle zu gewöhnen. Sein Magen meldete sich immer noch zu den Zeiten, an denen er 15 lange Jahre die eintönigen Mahlzeiten serviert bekommen hatte.
An diesem Morgen musste er den Duft und den wohligen Klang der Freiheit draußen lassen. Niemand durfte durch die Fenster sehen. Nicht bevor das Werk vollendet war, bevor die letzten Schuldigen ihre gerechte Strafe erhalten hatten. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Bruder sich umbringen würde. Dollinger undTrempe sollten doch ebenfalls noch auf die Rechnung. Er hatte die Polizei unterschätzt, obwohl alles nach Plan gelaufen war. Fast alles. Uwe Nordmann fiel ihm ein, der Kontrollanruf in der Praxis. Keine zwei Stunden nach dem Gespräch hatte Nordmann die Praxis geschlossen, um zur Polizei zu gehen. Vermutlich hatte der Doktor dort
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