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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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angegriffen, als es einen Fernsehbericht in Guiyu drehte. Dubiose Geschäftsleute wollen mit ihrem gefährlichen, nicht ganz legalen Wirtschaftszweig lieber im Schatten bleiben. Vielleicht hatte es aber auch mit Heimatstolz zu tun. Wäre meine Stadt weltbekannt für ihr Gewirr giftiger Abfallverwertungsgassen, wäre ich wahrscheinlich auch genervt, wenn die Leute mit Kameras in meine Werkstatt spazierten. Woher auch immer die schlechten Schwingungen kamen, Guiyu klang nicht besonders sympathisch. Ich hatte Geschichten von Journalisten gehört, die angeschrien, verjagt und mit Ziegelsteinen beworfen worden waren.
    Doch Guiyu ist nicht der einzige auf seltsame Weise spezialisierte Ort in der Provinz Guangdong. Nur rund dreihundert Kilometer die Küste hinunter befindet sich die Stadt Shenzhen, eine »Sonderwirtschaftszone« mit einer der weltweit höchsten Konzentrationen von Elektronikherstellern. (An die großen Unternehmen in Shenzhen verkauft Herr Han seine recycelten Bauteile.) Shenzhen ist der Standort der berüchtigten »Foxconn City«, des gigantischen Komplexes, in dem iPhones und eine Million anderer Dinge gebaut werden.
    Vom Abfallrecycling über fragwürdige industrielle Prozesse zu simplen CO 2 -Emissonen verlagern wir nicht nur unsere Herstellung, sondern auch unsere Umweltverschmutzung nach Guangdong. Der Umweltreporter Jonathan Watts brachte es in seinem Buch When a Billion Chinese Jump auf den Punkt: »Dort ignorieren die Industrienationen ihre eigenen Spielregeln.«
    Und dann gibt es da noch Gurao, die BH -Stadt von Guangdong, ganz in der Nähe von Guiyu. Als ich mit dem Bus durch Gurao fuhr, sah ich eine Plakatwand nach der anderen mit halb nackten Unterwäschemodels. Riesige Frauen in BH s blickten von den Fassaden der Fabrikgebäude herunter. Eine räkelte sich neben einer Violine. Fast alle Models waren westlich, riesige Flächen weißer Haut zogen vorüber. Ein geriffelter männlicher Bauch über einem gut gefüllten Slip – das Werk der Guangdong Puning Unique and Joy Clothing Co. An den Straßenlaternen, von denen in anderen Städten an Feiertagen oder bei Musikfestivals Banner flattern würden, hingen dort Wimpel mit noch mehr westlichen Models in Unterwäsche. Die Kinder aus Gurao müssen glauben, wenn es ihre Stadt nicht gäbe, liefe die gesamte westliche Welt im Adamskostüm herum.
    Ich sah BH s, Cecily aber witterte eine Story. Die junge chinesische Reporterin, die ich in Peking als Führerin und Dolmetscherin engagiert hatte, war fasziniert von der BH -Stadt und schlug vor, dass wir uns als Unternehmer ausgaben, die BH s in die USA importieren wollten. Auf diese Weise, glaubte sie, könnten wir einen Blick in eine der Fabriken werfen.
    Dass wir darüber nachdachten, undercover zu arbeiten, um einen Einblick in die eigentlich legale Unterwäscheindustrie zu bekommen, stand stellvertretend für ein grundsätzliches Pro blem: In China sollte ich kein Journalist sein. Meine nervtötende Angewohnheit, mir selbst zu erzählen, ich sei sowieso keiner, nützte da nichts. Mehrere professionelle Reporter mit jahrelanger Chinaerfahrung hatten mir geraten, mit einem Touristenvisum zu reisen, meine Absichten als Autor für mich zu behalten und auch sonst nichts zu tun, was die Aufmerksamkeit lokaler Behörden oder Medien auf mich lenken könnte – und erst recht nicht die der unfreundlichen Typen mit den Ziegelsteinen in Guiyu.
    Cecily meinte, ich sollte angeben, dass sie meine Reiseleiterin war und nicht journalistisch arbeitete. (Sie war Reiseleiterin. Und betätigte sich nicht journalistisch.) Größere Dinge brauten sich zusammen. Der Arabische Frühling hatte die chinesische Regierung nervös gemacht; bevor ich das Land verließ, wurde hart durchgegriffen, die Polizei schüchterte ausländische Journalisten ein und vereinzelt wurde sogar Gewalt angewendet.
    Im Bus nach Guiyu beschrieb Cecily die von ihr ironisch so genannten »lustigen Spielchen« zwischen den chinesischen Journalisten und der Regierung. Reporter spielten Katz und Maus und testeten, wie weit sie gehen konnten. Beiträge, die in einer viel gelesenen Zeitung verboten waren, konnten unter Umständen in Fachzeitschriften veröffentlicht werden. Die Zensoren waren zu bestimmten Zeiten besonders aktiv im Internet, ein zum richtigen Zeitpunkt online geposteter Artikel konnte also für ein paar Stunden seine Leserschaft erreichen – selbst wenn der Herausgeber dann mit den Zensoren kooperierte und ihn entfernte. Die Regierung, so

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