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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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Cecily, sei »völlig durchgeknallt, was die Presse anging«.
    Nun mussten wir uns eine Tarnung zurechtlegen, mit der wir beide herumschnüffeln und im Ernstfall leugnen konnten, dass ich Reporter war. Uns wurde jedoch schnell klar, dass meine Glaubwürdigkeit als Journalist vielleicht gering war – noch geringer aber war meine Glaubwürdigkeit als irgendetwas anderes.
    »Du könntest ein Universitätsprofessor sein«, sagte Cecily und warf mir einen prüfenden Seitenblick zu.
    War das ihr Ernst? Gab es wirklich Professoren, die so abgespannt aussahen, ein derart fleckiges Gesicht hatten und so schlecht gekleidet waren?
    »Oder vielleicht bist du ein Geschäftsmann, der einen Laden aufmachen möchte«, schlug sie vor.
    Ja, klar, dachte ich. Ich bin einer von den vielen Geschäftsmännern, die aussehen, als hätten sie in zwanzig Jahren nicht einmal daran gedacht, sich zu rasieren.
    Mein Gegenvorschlag war Künstler . Jeder weiß, dass Künstler potthässlich und mürrisch sein können und dabei eine starke Neigung zum Narzissmus haben. Die Rolle war mir wie auf den Leib geschneidert. Und sie würde auch erklären, weshalb ich so viele Fotos machte.
    Aber Cecily war skeptisch. Sie glaubte nicht, dass sich leicht begreiflich machen ließe, warum ein Künstler Orte mit starker Umweltverschmutzung aufsuchte. Vielleicht hatte sie recht. Außerdem war Edward Burtynsky schon vor mir da gewesen.
    Doch dann hatte ich einen Geistesblitz: Wir brauchten keine erfundene Geschichte – was wir brauchten, war ein Scherz. Humor war eine universelle Sprache. Wir würden einfach jedem erzählen, ich hätte aus Versehen mein altes Handy weggeworfen und sei nun nach Guiyu gekommen, um es wiederzufinden.
    Cecily lachte. »Ich glaube, Künstler ist besser.«
    *
    Niemand warf Steine. Dafür gerieten wir unter eine schwere Teebelagerung. Durch schieren Zufall waren wir auf die Hans gestoßen und ließen nun die entwaffnenden Angriffe ihrer Großzügigkeit und ihres Wohlwollens über uns ergehen.
    Nachdem wir eine unangenehme Zeit lang durch die Straßen von Guiyu gelaufen waren – unangenehm, weil wir so sehr auffielen, dass die Leute ihre Tätigkeiten unterbrachen, um uns anzustarren und sich vermutlich mit Ziegelsteinen zu bewaffnen –, trafen wir auf Herrn Han, der im Eingang seiner Werkstatt saß. Er war jung, schätzungsweise Anfang dreißig, und hatte ein freundliches Gesicht. Stirn und Haare waren staubbedeckt. Mit einer kleinen Kreissäge hatte er Hauptprozessoren aus einem Stapel Motherboards gesägt. Auf Chinesisch fragte Cecily, ob wir uns seine Werkstatt ansehen dürften.
    Wie ihre Nachbarn lebten die Hans in den oberen Stockwerken ihres Hauses, das Erdgeschoss war für die garagenähnliche Werkstatt reserviert. Eine Ecke stellte das Wohnzimmer mit Teekessel und Computer dar; der Rest war vollgestopft mit gestapelten Motherboards, Prozessoren in Regalen und großen Getreidesäcken voller sortierter Widerstände und Kondensatoren. Dort saßen wir und tranken Unmengen Tee aus winzigen Tassen, während der kleine achtjährige Sohn der Familie Radau machte, indem er im hinteren Teil der Werkstatt mit Platinen um sich warf.
    Frau Han wollte wissen, weshalb Cecily mit Ende zwanzig noch nicht verheiratet war, ob ich es war und ob zwei Singles, die zusammen unterwegs waren, nicht vielleicht bald miteinander verheiratet sein würden und schließlich erneut, ob ich verheiratet war.
    »Ist er verheiratet?«, fragte sie und betrachtete mich leicht amüsiert, als wäre ich ein Zebra.
    Ich sagte, nein, sei ich nicht. Verheiratet. Ich führte das nicht weiter aus. Dabei war ich in Wirklichkeit mehr als nicht verhei ratet. Ich war frisch getrennt und obdachlos. Nach meiner Rück kehr aus Brasilien war ich aus der Wohnung der Frau Doktor gezogen und schlief nun, wenn ich nicht gerade in China war, auf einer Luftmatratze in Adams Wohnzimmer. Dort verbrachte ich die Nächte damit, zu beten, ein Asteroid möge mich treffen.
    Wir machten uns daran, unsere neuen Freunde zu belügen. Cecily und ich hatten uns letztendlich auf keine Coverstory geeinigt, doch natürlich wollten die Hans wissen, was mich nach Guiyu und in ihre Werkstatt verschlagen hatte. Cecily improvisierte, spulte nacheinander mehrere Geschichten ab und sorgte damit zweifellos für einige Verwirrung darüber, was für ein Künstler/Forscher/Unternehmer ich denn nun war. Ich äußerte Cecily gegenüber meine Zweifel, dass sie uns das abkaufen würden.
    »Egal«, antwortete sie.

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