Willkommen im sonnigen Tschernobyl
sagte Dennis. Tschernobyl verschob die Grenze nach oben. Aber ich war mir noch nicht im Klaren darüber, was diese Strahlungsstandards wirklich bedeuteten. Was sagte es mir zum Beispiel, dass der Standard in Kiew bei fünfzig lag, statt bei achtzig oder hundert?
»Das bedeutet«, sagte Dennis, »bei 51 wäre Panik in Kiew.« Er hielt die Kiewer für etwas paranoid in Bezug auf Kontamination. »Erst gestern riefen ein paar Journalisten an und sagten, sie hätten gehört, beim Reaktor wäre radioaktiver Staub frei ge worden«, erzählte er. »Ich sagte ihnen, ich war gerade erst da, alles in Ordnung.«
Das Briefing näherte sich dem Ende. Dennis blieb vor dem letzten Foto stehen. Darauf war eine große Skulptur zu sehen. Hoch oben zwischen zwei schräg zueinander stehenden grauen Säulen hing ein schmales Kreuz; es sah aus, als hielte eine Riesenpinzette einen Diamanten zur Begutachtung in die Höhe. Unten schleppte ein halbes Dutzend lebensgroßer Figuren Feuerwehrschläuche und Geigerzähler zu einem Nachbau des Reaktorkühlturms.
Das war das Mahnmal für die Feuerwehrleute. In den Stunden unmittelbar nach der Explosion waren die Feuerwehrmänner von Pripjat zu dem im Reaktor ausgebrochenen Feuer geeilt und hatten, ohne zu wissen, dass der Kern offen lag, dafür gesorgt, dass es nicht auf den benachbarten Reaktor übergriff. Sie waren entsetzlichen Strahlendosen ausgesetzt und starben nach wenigen Tagen.
Dennis wandte sich mit ausdrucksloser Miene hinter seiner Sonnenbrille zu mir um. Der Riesenzeigestock tippte sacht auf das Foto des Mahnmals. »Ohne diese Feuerwehrmänner wäre die Zone nicht dreißig, sondern achthundert Kilometer groß«, sagte er.
*
Nikolai wartete rauchend auf dem Parkplatz. »Wir arbeiten bis fünf«, sagte Dennis. »Essen ist also um halb fünf. Um zehn vor fünf ist Fußball. Es ist das wichtigste Spiel.« Er meinte die Weltmeisterschaft. Die ukrainische Nationalmannschaft hatte sich zum ersten Mal qualifiziert und an jenem Tag fand das K. o.-Spiel gegen Tunesien statt. Abstruse Bilder einer lauten Sportbar in Tschernobyl schwirrten mir durch den Kopf. »Guter Plan«, antwortete ich.
Dennis saß auf dem Beifahrersitz, ich hinten. Ein paar Hundert Meter hinter dem Feuerwehrmahnmal fuhr Nikolai auf einen kleinen Kiesparkplatz und sprang aus dem Auto, um ein Bier und einen Eisriegel zu kaufen. Es gab einen kleinen Supermarkt im Sperrgebiet.
Wenige Minuten später kamen wir an den Kontrollpunkt der Zehn-Kilometer-Zone, in der die hochkontaminierten Gebiete lagen. Das Auto hielt kaum an, während Dennis dem Wachposten durch das Fenster einen der vielen Zettel reichte. Die übrigen faltete er zusammen und steckte sie für später hinter die Blende.
Die Luft, die durch die offenen Fenster hereinströmte, war warm und süßlich, ein duftender Gruß von der grünenden Landschaft um uns herum. Es fühlte sich so an, als wären wir drei Typen bei einer Spritztour aufs Land – was ja auch der Wahrheit entsprach, mehr oder weniger. Dennis und Nikolai tauschten Witze und Tratsch auf »Russkrainisch« aus. »Wir reden über den anderen Guide«, erklärte Dennis. »Er ist im Urlaub.« Offenbar gab es nur eine Handvoll Führer von Tscher nobyl-Interinform. Das verstärkte meinen Eindruck, den Traum eines jeden Reisenden gefunden zu haben: eine ganze Region, die zwar furchtbar verseucht, aber auch schön, interessant und noch nicht von Touristenhorden überfallen war.
Ein lautes elektronisches Piepen störte meine Gedanken. Mein Strahlungsdetektor war – irgendwie merkwürdig – von selbst angegangen, und da nun wohl wirklich etwas Strahlung zu messen war (bescheidene dreißig Mikroröntgen), meldete er sich mit einem nervigen, elektronischen Geplärre, das so gar nicht zu seinem coolen iPod-aus-Moskau-Look passte. Wie ich nun feststellte, hatte es seinen Grund, dass dieser Detektor eher aussah wie ein Gerät, das man mit ins Fitnessstudio nehmen würde statt an den Ort eines nuklearen Störfalls: Er war offenbar für Hosentaschen von ängstlichen Leuten entworfen worden, die dreißig Mikroröntgen für besorgniserregend hielten.
Dennis hatte seinen eigenen Detektor hervorgeholt, einen ziegelsteingroßen, beigefarbenen Kasten mit einer Metallfront. Kleine, schwarze Schalter sowie kryptische kyrillische und griechische Symbole zierten die Oberfläche. Ich war neidisch. Es schien als gäbe es keine Strahlung, die dieses Teil nicht messen könnte, und vermutlich hatte es sogar einen integrierten
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