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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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Weltempfänger. Sein Design war der Gipfel des Gamma-Chic: etwas klobig, robust gebaut, ein wenig geheimnisvoll und in charmantem Retrolook. Letztlich aber überzeugte mich vor allem sein Piepen. Im Gegensatz zum quengeligen Geplärr des PADEKC waren die Piepser dieses Profimodells zurückhaltend, fast musikalisch. Es klang wie eine Zikade, wenn es in höchster Perfektion das momentane Bombardement der vielen Betateilchen oder Gammastrahlen gegen seinen Träger registrierte. Dieser Detektor war gemacht für Leute, die minimale Strahlung als Tatsache des alltäglichen Lebens hinnehmen und die sich nicht durch zu lautes Piepen, das sie daran erinnert, stören lassen wollen. Leute, die man vielleicht als die wahren Kenner von Strahlenmengen bezeichnen könnte. Jemanden wie Dennis.
    Wir hielten an. Dennis zeigte aus dem Fenster auf einen großen Hügel zwischen den Bäumen. »Das ist Kolatschi«, sagte er. Zwei metallene Warnschilder standen schief im hohen Gras. Das war alles, was von dem Dorf geblieben war. Es war durch den Reaktorunfall derartig verseucht, dass es nicht nur evakuiert, sondern dem Erdboden gleichgemacht und begraben wurde. Von diesen Dörfern gab es viele. Dennis hielt sein Messgerät aus dem Fenster: 56 Mikroröntgen. Mein erstes Mal oberhalb des Kiewer Paniklevels.
    Als wir Kolatschi hinter uns ließen, fuhren wir an einigen alten Hochspannungsleitungen vorbei – vermutlich gehörten sie zu dem System, über das bis vor Kurzem Elektrizität von den nicht beschädigten, auch nach dem Unfall noch aktiven Reaktoren des Tschernobylkomplexes geleitet wurde. Die sowjetische und die ukrainische Regierung ließen die übrigen drei Reaktoren bis in die 1990er-Jahre in Betrieb, der letzte wurde erst 2000 abgeschaltet. Von den Tausenden Menschen, die immer noch im Sperrgebiet arbeiten, ist die Mehrheit mit der Stilllegung dieser Reaktoren beschäftigt.
    Der PADEKC auf dem Sitz neben mir wurde langsam aufdringlich. Ich entschuldigte mich für den Krach und schämte mich wie im Kino, wenn das Handy klingelt. Ich versuchte, das verdammte Ding auf Vibrationsalarm zu stellen, nur um mich in seinem undurchdringlichen russischen Menü vollends zu verirren. Als wir die Abzweigung nach Pripjat nahmen, flippte es vollkommen aus. Der Messwert stieg rasch von fünfzig Mikroröntgen in die Sechziger-, Achtziger- und niedrigen Hunderterwerte. Das Piepen nahm in einem Tempo zu, das ich dann doch als leicht beunruhigend empfand. Nikolai warf, vollkommen gleichgültig, einen Blick nach hinten – und wunderte sich nur, worüber mein kleines Messgerät sich so aufregte.
    Wir durchfuhren den Roten Wald, benannt nach der Farbe, die die Bäume nach einer extremen Kontamination annahmen, um dann abzusterben. Der Rote Wald war abgeholzt und an Ort und Stelle unter einer Erdschicht vergraben worden – der wohl größte radioaktive Komposthaufen der Welt. Bei der Einweisung hatte Dennis mich vorgewarnt, dass wir in diesem mittlerweile wiederaufgeforsteten Gebiet – einem durch die Strahlung bereits wieder verkrüppelten Pinienwald – der stärksten Strahlung ausgesetzt sein würden.
    Als wir um eine Kurve bogen, hielt Dennis sein Messgerät aus dem Beifahrerfenster in die Höhe. Es begann fröhlich zu tschilpen. Der PADEKC spielte inzwischen völlig verrückt. In Kiew hatte Leonid mir gesagt, die Obergrenze für das Gerät seien dreihundert Mikroröntgen, aber nun sprang die Anzeige von etwa 150 direkt auf 361. Das Auto war angefüllt mit dem immer lauter werdenden Piepsen unserer Messgeräte, das bald zu einem einzigen schrillen Ton verschmolz. Er erinnerte schmerzhaft an das langgezogene Biiiiep der EKG -Nulllinie auf einem Überwachungsmonitor in Arztserien.
    Dennis’ Messgerät erreichte seinen Höhepunkt bei 1 300 Mikroröntgen, das ist etwa dreißig Mal so viel wie die natürliche Strahlung in New York. Er drehte sich zu mir um und sagte: »Gestern ging es rauf bis zweitausend.« Es klang fast wie eine Entschuldigung. Vielleicht machte er sich Sorgen, ich könnte mich übers Ohr gehauen fühlen, weil ich bei einer Fahrt durch den Roten Wald weniger als die größtmögliche Strahlenkonzentration erhalten hatte – so als wäre ich nach Nepal gereist und hätte den Mount Everest verdeckt von Wolken vorgefunden.
    Auf einer Brücke mit rostigen Straßenlaternen und einem kaputten Geländer verlangsamte Nikolai die Fahrt und manövrierte das Auto an den Schlaglöchern im Asphalt vorbei. Auf der anderen Seite der Brücke

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