Willkommen im sonnigen Tschernobyl
wenn es irgendeine Möglichkeit gäbe, aufs Wasser zu gelangen oder vielleicht den örtlichen Fischteich zu besuchen, würde ich dafür gerne auf einen Teil der geplanten Route verzichten.«
Im Konferenzraum war es still. Der Hauch einer Grimasse huschte über Dennis’ Gesicht. »Das ist. Nicht möglich«, wiederholte er ungerührt. Er zeigte sich vernichtend immun gegen meine, wie ich gehofft hatte, ansteckende Begeisterung. Aber in Augenblicken wie diesem, wenn man, wie ich, versucht, Urlaub im militärisch kontrollierten Sperrgebiet einer atomaren Katastrophe zu machen – wofür es, wie ich vielleicht hinzufügen sollte, keinen vernünftigen Reiseführer gibt –, muss man eben bereit sein, sich ein wenig mehr zum Narren zu machen als sonst. Ich legte die Karten auf den Tisch.
»Sieh mal. Angenommen, ich würde irgendwo in der Zone mit Freunden picknicken und eine Bootstour machen wollen«, weihte ich ihn ein. »Wo könnten wir da theoretisch hingehen? Ich meine, wo sind die wirklich schönen Ecken?«
Dennis’ Glatze kräuselte sich leicht.
Ich hakte nach, sagte ihm, dass ich mich der Sache weniger als Journalist oder Wissenschaftler, sondern eher als Tourist nähern wollte. Als Besucher. Wo könnte ich also zum Beispiel ein nettes Picknickplätzchen in der Zone finden? Wo ging er selbst an einem ruhigen Tag hin? Und wenn nicht in der Zone, wo wäre dann die nächste Möglichkeit? Ich zeigte auf Strakholissya, das am Rand der Zone liegt, eine Stadt, die mir aufgefallen war, als ich mich in der Nacht zuvor grübelnd über die Landkarte gebeugt hatte. Was war damit?
»Ja, da ist es schön«, sagte Dennis. »Da kann man angeln gehen.«
Ich machte Fortschritte. Angeln?
»Ja«, Dennis kam langsam in Schwung. »Aber da ist es besser.« Er zeigte auf Teremtsi, einen kleinen Flecken zwischen den Binneninseln tief in der Zone. »Das ist ein guter Ort zum Angeln«, sagte er. »Habe ich einmal gemacht. Meistens sammle ich da Pilze.«
Ich starrte ihn an. Pilze speichern die Radionuklide aus dem Erdboden und reichern sie an, sind daher also das Letzte, was man in einer solchen verseuchten Gegend essen sollte. Und Dennis pflückte sie mitten im Herzen der verbotenen Zone.
»Du sammelst Pilze? Und isst sie?« Meine Stimme klang ehrfürchtig.
»Ja, das ist saubere Gebiet, ich weiß. Das ist kein Problem.«
Ich konnte mein Glück nicht fassen. Als absoluter Anfänger war ich gleich an einen Kerl geraten, der die Zone als Pilzrevier und Forellenbach nutzte. Ich wollte die Route unbedingt ändern. Wer möchte schon einen zerstörten Kernreaktor sehen, wenn er stattdessen angeln gehen kann?
Glauben Sie nicht, ich hätte ihn nicht angefleht. Aber Dennis war viel zu sehr Profi, um das offizielle Programm mit all dem genehmigten, abgestempelten und unterzeichneten Papierkram in mehrfacher Ausführung für die verschiedenen Kontrollpunkte sausen zu lassen, nur weil ein geistesgestörter Ausländer bitte, bitte sagte. Doch diesmal zögerte er einen Augenblick. »Das ist, äh. Nicht möglich«, sagte er und kehrte wieder zum vorgegebenen Drehbuch zurück. Aber ich sah den Anflug eines Lächelns in seinem Gesicht, als er sich von der Karte abwandte.
Die Einweisung ging an einer der Wände des Raumes weiter, von einem Diagramm zum nächsten. Zwei Karten zeigten die Kontamination durch radioaktive Isotope von Cäsium und Strontium in der Zone. Die Verteilung ist vollkommen ungleichmäßig, abhängig davon, wo die radioaktiven Trümmer unmittelbar nach der Explosion landeten, und vom Wind und Regen in den darauffolgenden Tagen und Wochen, als der offene Reaktorkern ununterbrochen radioaktiven Rauch und Teilchen in die Luft spie. Insofern ist das Wetter der Wochen nach der Katastrophe als Kontamination in den Erdboden eingeschrieben. Die Karte zeigte die Verteilung in Abstufungen von Rot und Braun, wie ein entstellter Seestern, dessen Herz genau über dem Reaktor liegt.
Der Strahlungswert schwankt zudem im Laufe der Zeit, wovon das abhängt, weiß ich allerdings nicht genau. Deshalb wur den – wie in jeder Stadt – Grenzwerte festgesetzt, die bestimmen sollen, was als normal gilt. Dennis sagte mir, der Standard in Tschernobyl liege bei achtzig Mikroröntgen pro Stunde. In Kiew waren es fünfzig. (Ungefähr derselbe Wert wie in New York, wo man allein durch die natürliche Strahlung vierzig Mikroröntgen in der Stunde abbekommt.)
»Letzten Monat habe ich 75 Mikroröntgen an verschiedenen Stellen in der Stadt gemessen«,
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