Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Pinienwald mit vereinzelten Schildern, die vor Brandgefahr warnten. Verglichen mit den Waldbränden in den USA , die vor allem deshalb gefürchtet sind, weil sie Häuser zerstören, würde ein Feuer in der Gegend um Tschernobyl weitaus mehr Schaden anrichten. Die Bäume und die anderen Pflanzen haben die Radionuklide aufgenommen, weil sie sie für natürlich im Erdboden vorkommende Nährstoffe hielten (ein Grund, Erzeugnisse aus der Umgebung der Zone zu meiden). Ein Waldbrand hier könnte diese eingeschlossenen radioaktiven Teilchen freisetzen, sodass sie in der Luft umherschwirren – ein eigener atomarer Zwischenfall. Und das ist nur ein Grund, weshalb die Tschernobyl-Katastrophe bis heute noch nicht ganz vorüber ist.
Kaum zwei Stunden von Kiew entfernt erreichten wir einen Kontrollpunkt. Eine bunt gestreifte Schranke zwischen zwei Wachhäuschen versperrte die Straße. Schilder mit einer Menge Ausrufezeichen und Symbolen für Radioaktivität standen herum. Nikolai und ich stiegen aus dem Auto und ich gab dem herankommenden Wachposten meinen Pass. Der Mann trug eine Kappe mit dem ukrainischen Dreizack und einen blaugrauen Tarnanzug, an dem auf Brusthöhe ein Filmdosimeter befestigt war. Damit konnte die gesamte Strahlenbelastung während seines Aufenthaltes in der Zone gemessen werden. Ich hätte ihn fragen sollen, wo man so ein Ding bekommt.
Nach einer flüchtigen Durchsuchung sprangen wir wieder ins Auto. Die Schranke hob sich, Nikolai ließ den Motor auf heulen, der Kontrollpunkt blieb hinter uns zurück, und wir fuh ren weiter durch den Wald auf einer sonnengefleckten Straße ohne Mittellinie.
*
Wir befanden uns nun in der verbotenen Zone.
Am Verwaltungsgebäude von Tschernobyl-Interinform in der Stadt Tschernobyl – etwa 15 Kilometer vom Reaktor entfernt – trafen wir meinen Begleiter Dennis.
Wie er da auf der obersten Stufe der Treppe zu dem flachen, gelben Gebäude stand, fügte er sich gut in die quasi-militärische Atmosphäre der Zone ein. Er war Mitte zwanzig. Seiner beginnenden Glatze wirkte er mit einem Bürstenschnitt entgegen. Er trug Jacke und Hose aus Flecktarn und an den Füßen Springerstiefel. Das Outfit wurde vervollständigt – und der martialische Bann gebrochen – durch ein schwarzes, ärmelloses T-Shirt mit dem Aufdruck eines Footballhelmes umrahmt von englischen Wörtern. Seine Augen verbarg er hinter einer sportlichen Sonnenbrille.
»Zuerst das Briefing«, sagte er lässig. »Das ist oben.« Mit diesen Worten ging er ins Gebäude.
Der Raum, in dem die Einweisung stattfinden sollte, war langgestreckt und geräumig, an den Wänden hingen Fotos und Karten. In der Mitte stand ein Holztisch mit zwölf Stühlen darum. Der Boden war mit welliger Klebefolie in Holzoptik ausgelegt. Ist sicher gut zu reinigen, falls mal jemand etwas Cäsium hereinträgt, dachte ich.
Dennis und ich waren allein. Von der Sommersaison war noch nicht viel zu merken. Er holte einen riesigen, hölzernen Zeigestock aus der Ecke und wir näherten uns einer großen Landkarte an der Stirnseite. Er skizzierte unsere geplante Route mit seinem Zeige-Ast, obwohl wir nur wenige Zentimeter von der Karte entfernt standen.
»Wir sind hier. Tschernobyl«, sagte er und tippte auf die Karte. »Wir fahren nach Kolatschi. Vergrabenes Dorf.« Er tippte wieder. »Dann Roter Wald. Das ist am meisten radioaktiver Punkt heute.« Er sah mich an, um seine Worte zu unterstreichen. Er trug immer noch seine Sonnenbrille.
Dann wandte er sich wieder zur Karte und fuhr fort: »Von hier fahren wir nach Pripjat. Das ist verlassene Stadt. Dann können wir uns Reaktor nähern auf 150 Meter.«
Das war die Standardroute, auf der die Besucher ihrer vorgefassten Meinung über Tschernobyl als Ort der Katastrophe und Angst folgen konnten – ohne den ausgetretenen Pfad zu verlassen und sich der Gefahr einer Kontamination auszusetzen. Das war es schließlich auch, was die meisten Menschen wollten. Aber ich war nicht hergekommen, um mich in postnuklearer Paranoia zu suhlen. Ich war zum Vergnügen hier, und nun war der richtige Augenblick gekommen, mich darum zu kümmern.
»Gibt es irgendeine Möglichkeit …« Wie sollte ich es sagen? »Gibt es irgendeine Möglichkeit, hier Kanu zu fahren?«
Dennis sah mich verständnislos durch seine Sonnenbrille an. In ihren silbrig glänzenden Gläsern spiegelte sich jemand, der aussah wie ich und dessen Gesichtsausdruck sagte: Ja, ich bin bescheuert.
»Das ist nicht möglich«, sagte Dennis.
»Nun,
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