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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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Zone gesundheitliche Vorteile mit sich, aber die kamen sicher daher, dass die Menschen in einem kleinen Landhäuschen lebten, wo sie ihr eigenes (kontaminiertes) Gemüse an bauten und frische (verstrahlte) Luft atmeten, anstatt in einer beschissenen Wohnung in Kiew zu hocken. Ich sagte, vielleicht schlage hier Lebensqualität einfach Strahlung. Dennis zuckte die Schultern. Doch nicht alle Menschen in der Ukraine gingen so lässig mit Strahlung um. Später erzählte er, dass er immer die Stiefel vor der Tür stehen lassen müsse, wenn er bei seiner Schwester in Kiew zu Besuch sei.
    Der Vergnügungspark ist das Wahrzeichen von Pripjat, ein endzeitliches Coney Island mit einem breit angelegten asphaltierten Bereich, umgeben von Fahrgeschäften und anderen Attraktionen, die allmählich von Rost zerfressen und von Unkraut überwuchert werden. Dennis interessierte sich jedoch mehr für das Moos. Er sammelte die kontaminiertesten Stellen und die waren hier im Moos zu finden. In der Nähe des zerstörten Autoscooter-Pavillons hielt er sein Messgerät auf einen Moosfleck, bis es etwas anzeigte.
    »Eins Komma fünf Milli«, sagte er und rieb die Rückseite des Dosimeters über seinen Tarnanzug.
    Wir verließen den Vergnügungspark und gingen die Straße hinunter, an der Post vorbei, einem flachen Gebäude, der Berufsschule, wie Dennis sagte, und an weiteren Wohnblocks. Dann bogen wir von der Straße ab und liefen schnell unter dem hohen Betonbogen eines Hauses durch, dessen instabile Konstruktion Dennis misstrauisch im Blick behielt.
    Wir gingen über den Hinterhof und ein angrenzendes überwachsenes Areal. Im warmen Halbschatten des Waldes summ ten Bienen. Beim Gehen schob ich Äste beiseite und wand mich zwischen Büschen hindurch, die uns den Weg versperrten. Am Ende des schmalen Pfades stießen wir auf ein zweistöckiges Haus aus rosa Ziegeln, angeordnet in einem vertikalen Muster.
    »Kindergarten Nummer sieben«, sagte Dennis.
    War der Anblick der verlassenen Stadt nicht ernüchternd genug, dann garantiert der Kindergarten Nr. 7. Über ein nasskaltes Treppenhaus gelangten wir in ein langgezogenes, großzügiges Spielzimmer mit hohen Fenstern auf einer Seite, aus denen das Glas schon lange herausgebrochen war. Dicke Lagen himmelblauer Farbe hingen gekräuselt von den Wänden herunter. Was die Plünderer – oder sollen wir sie die ersten Touristen nennen? – zurückgelassen hatten, lag über den Fußboden verteilt und war mit einer zwanzig Jahre alten Staubschicht von der sich langsam auflösenden Decke überzogen. Mücken drehten träge ihre Runden in der feuchten Luft.
    Die Tür war aus den Angeln gehoben. Daneben lagen orange farbene Bauklötzchen und ein Stapel Blätter mit bunten Bil dern – marschierende Elefanten, kleine Sowjetkinder mit rosigen Wangen. Ein grauer Plastikteddy mit eingedrücktem Gesicht saß auf einem zerfallenden Scheiterhaufen russischer Leselerntafeln. Ich erkannte den kyrillischen Buchstaben b.
    Dennis stand mit seinem Detektor am Fenster. »Achtzig«, sagte er. Dann ging er zu der Wand am anderen Ende. »Plus fünf.«
    Ein Spielauto mit einem gelben Plastiksitz, gerade groß genug für ein Kind, parkte mitten im Raum. Es hatte keine Räder und keine Windschutzscheibe mehr. Selbst das Auto war auseinandergenommen worden. Daneben lag eine Gasmaske für Kinder.
    Über zahlreiche Pfützen hinweg gingen wir wieder hinaus und blieben vor ein paar Schwarz-Weiß-Fotografien stehen, die noch im Treppenhaus an der Wand hingen. Darauf spielten Kinder und machten ihre Aufgaben in einem ordentlichen Klassenzimmer. Ein schwindelerregender zeitlicher Strudel riss mich mit und plötzlich begriff ich: Das war derselbe Raum. Der zerstörte Raum, den wir gerade verlassen hatten. Und das Spielzeug, mit dem die Kinder auf den Fotos spielten, war das selbe, das wir gerade gesehen hatten, inzwischen staubverkrustet.
    Nikolai holte uns an der Straße ab, er war wie aus dem Nichts erschienen, und wir verließen Pripjat schweigend.
    Das Klassenzimmer ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hatte im Sperrgebiet unerwartete, wilde Blüte gesehen; es hatte etwas Fröhliches, wie die Natur eine menschenleere Welt für sich beanspruchte. Aber sie war auf Leid gewachsen. Zwar bedeutete die Kernschmelze in Tschernobyl kein Todesurteil für die Menschen aus Pripjat – und wahrscheinlich waren die meisten Kinder aus dem Kindergarten Nr. 7 heute gesund und munter –, aber zumindest versetzte sie Hunderttausende in Angst und

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