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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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der Packung ragenden Filtern.
    Zufällig stammte der Aufseher wie Cecily aus der Provinz Henan. Das war unsere Eintrittskarte. Wie jedes große Land, dessen ursprüngliche Bevölkerung nicht innerhalb der letzten fünfhundert Jahre verdrängt wurde, ist China eigentlich nicht ein Land, sondern eine Ansammlung von kleinen Ländern, was zu weitaus stärkeren spontanen Allianzen führt, als wenn zum Beispiel zwei Menschen herausfinden, dass sie beide aus Cleveland kommen. Cecily sagte, ihr Henan-Dialekt sei etwas eingerostet, aber er war offensichtlich gut genug, um uns bei dem Aufseher beliebt zu machen. Mutig erlaubte er uns, uns beim Bergwerk aufzuhalten, anstatt uns an den Ohren den Berg hinunterzuschleifen, wie es eigentlich seine Pflicht gewesen wäre.
    Doch es gab Grenzen. Unter Tage wollten sie uns nicht gehen lassen. Das sei nicht sicher, außerdem habe er das nicht zu entscheiden – und diejenigen, die das entschieden, würden es uns auch nicht erlauben. Zudem sei der Stollen kein Ort für eine Frau. Ohne hinzusehen wusste ich, dass Cecily eine Grimasse zog.
    Zwei Bergleute schlenderten herüber, bloß um meine Zigaretten abzulehnen. Der Aufseher machte eine Handbewegung in meine Richtung und fragte Cecily etwas.
    »Lass mich raten«, sagte ich. »Er fragt, ob ich verheiratet bin.«
    »Jep«, antwortete Cecily.
    Ich fasste mir an den Kopf. »Im Ernst?!«
    »Nein, nein«, beruhigte sie mich. »War nur ein Witz.« In Wirklichkeit wollte er wissen, warum wir dort waren.
    Diesmal hielt ich es für angemessen, den Highschool-Lehrer zum Einsatz zu bringen, eine neue Rolle, die ich tatsächlich glaubwürdig fand. Aber Cecily preschte vor mit so etwas wie Professor für Bergbautechnologie an einer bedeutenden amerikanischen Universität.
    »Was ist, wenn sie anfangen, mir Fragen zu stellen?«, flüsterte ich.
    »Keine Sorge«, meinte Cecily. »Wir müssen ihnen nur irgend etwas erzählen.«
    Im Getriebegehäuse hinter uns begann sich ein großes Rad zu drehen, an dem ein Seil lief. Die Seilenden verschwanden in dem tunnelähnlichen Eingang des Stollens; beide waren mit einem Zug aus fünf Förderwagen verbunden. Sollten sie jemals wieder anfahren, würde ein Zug leer hinabfahren und der andere gleichzeitig mit Kohle beladen nach oben steigen. Aber bis dahin war es noch eine Weile. Bislang war keine Kohle zu sehen, außer natürlich überall. Das Rad drehte sich bisher wohl nur, damit die Arbeiter die Seile gleichmäßig spannen konnten.
    Die Schienen, auf denen wir standen, liefen durch einen fast 150 Meter langen Tunnel zum Verladebereich, der sich dem Aufseher zufolge etwa neunzig Meter senkrecht unter der Erde befand. Mehrere Hundert Bergleute waren dort unten und arbeiteten sich durch Kohleflöze. Normalerweise hatten die Bergarbeiter alle zehn Tage einen Tag frei. Aber in letzter Zeit, sagte der Aufseher, hätten sie Woche für Woche ohne einen einzigen freien Tag durchgearbeitet.
    Das Bergwerk produzierte tausend Tonnen pro Tag – wenig in Anbetracht der Tatsache, dass so viele illegale Betriebe geschlossen worden waren. Bergwerke mit einer täglichen Produktionsmenge von drei- oder viertausend Tonnen waren nicht ungewöhnlich. In wenigen Jahren, erklärte uns der Aufseher, würde dieses Bergwerk entweder mit neuen Anlagen aufgerüstet oder komplett stillgelegt.
    Insofern stand es beispielhaft für eine grundlegende Veränderung in Chinas Kohleindustrie. Neue Bergwerke mit moderner Technologie wurden in Betrieb genommen und Bergwerke wie dieses, das seit 1940 bestand, allmählich geschlossen. Eine ähn liche, die ökonomische und industrielle Landschaft umstrukturierende Entwicklung vollzieht sich in vielen chinesischen Industriezweigen. Die Schwerindustrie wandert ins Inland, in Gebiete, wo sowohl Rohstoffe als auch billige Arbeitskräfte reichlich vorhanden sind. Genau wie die USA und Europa einen Großteil ihrer Schwerindustrie ins Ausland verlagern, spaltet sich auch die chinesische Wirtschaft auf und teilt das Land in industrialisierte Gebiete und Entwicklungsgebiete, in Bereiche mit hohem und solche mit niedrigem Einkommen. Die Flutwelle der Industrialisierung bewegt sich von der Küste aus immer weiter ins Inland und verwandelt Orte wie Shanghai und Shenzen in ressourcenhungrige Abbilder der Länder, deren konsumistischer Wirtschaft sie nacheiferten.
    »Verwendet man in Amerika dieselbe Technologie?«
    Das war der Aufseher. Er machte eine Kopfbewegung zu den Förderwagen, Seilen und dem riesigen

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