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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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Yamuna, die so anders ist als die des milchigen Gangeswassers. Die heilige Yamuna ist ein Fluss, der Kummer und Zorn annimmt und lindert, eine Quelle der Liebe und des Mitgefühls für alle Wesen, angefangen bei den Göttern. Vielleicht ist es aus mythologischer Sicht ganz passend, dass sie auch so viel anderes hinnimmt.
    Indien ist voller heiliger Flüsse, und sogar sein Name stammt von einem Fluss: Es ist das Land hinter dem Indus – ein Fluss, dessen Name, um ganz sicher zu gehen, von einem alten Sanskritwort für Fluss abgeleitet ist. Und genau wie mit den Hindugöttern ist es auch mit den indischen Wasserwegen. Die Devise lautet Vielfalt. Jeder Fluss ist die Inkarnation, der Avatar, Gefährte oder das Kind von jedem anderen, und kaum ein Bächlein auf dem ganzen Subkontinent kommt ohne metaphysische Bürde davon. Wie heilig sind Indiens Flüsse? So heilig, dass sogar bestimmte Gewässer in Queens ebenfalls heilig sind. So heilig, dass man kein Getränk verschütten kann, ohne befürchten zu müssen, dass sofort jemand auftaucht, um das Rinnsal anzubeten.
    Der Ganges – oder Ganga, wie er in Indien genannt wird – ist, nach dem, was man so hört, der heiligste von allen. Herz von Varanasi, Gefährte von Vishnu, fließt er durch Shivas Haar und so weiter, und so fort. Er ist der Gott gewordene Fluss aller Flüsse. Und dort, am Ufer des Ganges, hatte ich mein Erwe ckungserlebnis als Umweltverschmutzungstourist. Ich hatte ein halbes Jahr in Delhi gelebt und zufällig Kanpur besucht, wo der Ganges eine lähmende Infusion aus Abwässern von Industrie und Kommune erhält. Kanpur war vermutlich die schmutzigste Stadt Indiens. Aber es gefiel mir dort. Es gefiel mir, dass man von den Gerbereien zum Fluss gehen konnte, von den offenen Abwasserkanälen zu den Bauernhöfen und mit eigenen Augen sehen konnte, wie sie alle miteinander zusammenhingen. Es gefiel mir, dass man am Ufer des stinkenden Ganges, fast ebenso matschig wie heilig, stehen und den Pilgern, die in die reinigenden Kräfte dieses unreinen Wassers vertrauten, bei ihren rituellen Waschungen zusehen konnte. All das und dann noch günstige Hostels. Doch in den Reiseführern kam Kanpur nicht vor.
    Ganz schön unfair, dachte ich.
    In Delhi war mir außerdem eine andere Form des Umweltschutzes begegnet als in den USA . Wie groß die Sorge um die Umwelt bei uns auch sein mochte, es war eine unpersönliche Sorge. Unsere normale Umgebung, egal ob im Vorort oder in der Innenstadt, war meist angenehm oder zumindest sauber oder wenigstens nicht giftig. In Indien war Umweltschutz jedoch mehr als ein abstrakter moralischer Wert, mehr als eine Möglichkeit, den eigenen politischen Standpunkt und sozioökonomischen Status zu signalisieren. Hier, in der täglichen Konfrontation mit der schlechten Luft und dem verunreinigten Trinkwasser, bekam er die Dringlichkeit eines Bürgerrechtskampfes. Nur an verschmutzten Orten konnte man wirklich verstehen, um was es eigentlich ging.
    Diesmal ließ ich Kanpur jedoch aus. Ignorierte auch den Ganges. Der mag zwar Indiens heiligster Fluss sein, aber die Yamuna war der dreckigste, und ich hatte meine Prioritäten gesetzt. Ich wollte wissen, weshalb einer Flussgöttin bei all dem Spektakel, das die Inder um ihre Flüsse machen, nicht ein wenig Ruhe vergönnt war. Denn die Yamuna ist zwar eine Göttin, aber dort, wo sie Delhi verlässt, kein Fluss mehr.
    *
    Ich war nicht nach Hause geflogen – ich hatte ja keins –, sondern war direkt aus China gekommen. Von Linfen ging es nach Peking, von Peking nach Shanghai und von dort nach Delhi. In Delhi, keine fünf Minuten vom Flughafen entfernt, machte der Taxifahrer da weiter, wo die Hans aufgehört hatten.
    »Sie sind verheiratet?«, fragte er.
    Waren ganze Kontinente nur bevölkert, damit ich es immer wieder aussprechen musste? Ich war allein. Nicht mit der Frau Doktor zusammen, nicht frisch verheiratet, sondern allein, allein und nochmals allein.
    »Nein«, antwortete ich. »Und Sie?«
    Er nickte. Er hatte auch ein Kind.
    »In Ihrem Land, nur Liebesheiraten. Keine arrangierten Ehen. Das ist gut«, sagte er. »Arrangierte Ehe, Vater und Mutter suchen die Braut aus. Du selbst willst anderes Mädchen.«
    »Ihre Ehe ist arrangiert worden?«, fragte ich.
    »Ja.«
    »Lieben Sie Ihre Frau?«
    »Ja«, antwortete er, den Blick auf die Straße gerichtet. »Aber ich liebte eine andere.«
    *
    Indien. Land der Kontraste.
    Das sollte man nicht über Indien schreiben. Aber anscheinend muss man es

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