Willkommen im sonnigen Tschernobyl
nicht im Wald ist?«
Doch wenn man wie ich das Konzept »Natur« heutzutage für ziemlich ramponiert hält, drängt sich die Frage auf, wo man seine Pilgerbedürfnisse befriedigen kann. Es ist nicht schwer nachzuvollziehen, dass ein Spaziergang im Wald eine gute Sache ist, aber funktioniert es auch mit weniger nahe liegenden Orten? Kann man in einem Ölsandtagebau angemessen spazieren gehen? Oder um ein Sojafeld herum? Ist der ausgelaugte Boden von Spindletop grundsätzlich nicht zum Spazieren?
Sogar Thoreau gab zu, dass man sein eigenes Spaziergelände um Concord, Massachusetts, herum, bestenfalls als halbwild ansehen konnte, so durchzogen wie es war mit den Rückewegen und alten Fußpfaden der Ureinwohner, mit Gehöften und Farmen. Als er 1846 auf der Suche nach einer wahrhaft urtümlichen Naturerfahrung nach Maine ging, machte ihn die echte Natur, die er dort vorfand, wahnsinnig. Sie war nicht immer schön, wirkte nicht immer heilig. Sie konnte gleichgültig und grausam sein und die Moral ebenso gut zerstören wie stärken. Thoreau war ehrlich genug, das zuzugeben. Er arbeitete seine Erfahrung in seine Ideen ein und kam zu dem Schluss, das Gesündeste sei es, mit einem Bein in der Natur und dem anderen in der Zivilisation zu stehen. Der amerikanische Naturprophet mochte das Wilde lieber zahm.
Aus unserer Perspektive 150 Jahre nach seinem Tod, vernehmen wir in der Naturschwärmerei von Thoreau auch dunklere Untertöne. In Vom Spazieren hebt er nicht nur hervor, dass er schlenderte, sondern auch in welche Richtung: Er ging nach Westen, und das war kein Zufall. Als durch und durch moralischer Mensch, tatkräftiger Kämpfer für die Abschaffung der Sklaverei und Begründer des zivilen Ungehorsams war er dennoch eine Art Imperialist. Er glaubte an seine Kultur und ihr Wachstum. »Es treibt mich … nach Oregon«, schrieb er an der Ostküste. »Dorthin bewegt sich die ganze Nation, und ich möchte hinzufügen, dass sich der Fortschritt der Menschheit allgemein von Osten nach Westen bewegt hat.« Ein ganzer Kontinent war zu plündern, und in seiner gutmütigen, die Wildnis liebenden Art trug Henry David seinen Teil dazu bei.
Thoreau und seine Mitstreiter müssen meiner Meinung nach noch etwas erklären. Es hat mit der mystischen Naturerfahrung zu tun, auf die sie so versessen waren. Einerseits überzeugten sie alle Welt davon, dass der Wald wesensmäßig gut sei – ein Gedanke, an dem sich die gesamte Umweltbewegung entzündete und der sie immer noch befeuert, der aber eine Kehrseite hat: Sie überzeugten die Menschen nämlich auch davon, dass die Kunst, vom Wert der Natur zu profitieren, sei, sie sich zu holen. Und das unmittelbare, individuelle Erlebnis war der Weg dahin.
So wurde aus der Begeisterung für die Natur nur eine weitere Ware, dem Wald, der Savanne oder dem Meer entnommen. All die grünen Naturliebhaber der Welt begehren bloß spirituelle Güter. Ja, wir wollen unbedingt die sogenannte Natur erhalten, aber vielleicht nur, weil es der beste uns bekannte Ort ist, um nach Erkenntnis zu schürfen.
*
Morgens stand Wandern auf dem Programm, aber nachmittags hielten die Sadhus ein Nickerchen. In so einer Hitze sollte man sich nicht verausgaben.
Wir lagerten in einem staubigen Wäldchen hundert Meter von der Straße entfernt. Nach dem Mittagessen hingen Mansi und ich mit Jai, Sunil und M. P. in einem offenen Zelt herum. M. P. hatte mir als Geschenk ein religiöses Heft mit dem Titel Vorbereitungen auf ein höheres Leben mitgebracht.
Sunil spielte sein Lieblingsspiel: uns zu überreden, ganz bis nach Delhi mitzugehen.
»Ihr könnt uns nicht verlassen!«, rief er. »Wir haben euch so gerne hier. Wir werden euch beide anketten!« Und griff nach unseren Fußgelenken.
Obwohl auch er ein Sadhu war, trug Sunil Jeans und Hemd statt Gewänder. Seine Eltern seien nicht begeistert davon gewesen, dass er ein heiliger Mann werden wollte. »Zieh dich wenigstens normal an«, hatten sie gesagt und das tat er. Die Straßenkleidung passte zu seiner Ausstrahlung lässiger Kompetenz. Als Yatra-Organisator war er der Kopf der Aktion und bei Weitem der vernünftigste der Sadhus. Aber er glich das mit einem irrwitzigen Sinn für Humor aus.
»Namensänderung!«, brüllte er und zeigte auf mich. »Gore Krishna!«
Mansi lachte. »Er nennt dich den weißen Krishna . Bei dir würden Stift und Kamera die Flöte ersetzen.«
Sunil schaukelte vor und zurück und schlug lachend auf den Boden.
Ich fragte die Runde, was genau
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