Willkommen im sonnigen Tschernobyl
mein bestes Hindi hervor.
»Kya yatra acha hai?« Ist die Yatra gut?
Wieder nickte er. »Die schlafenden Inder müssen aufwachen«, sagte er – das war mehr Englisch, als ich erwartet hatte. »Natürliche Ressourcen geben der Menschheit so viel, ohne sie würde kein Leben existieren. Die Mächtigen interessieren sich nur für ihr Luxusleben. Sie müssen abgesetzt werden.«
Der Mann hieß M. P. und war ein ehemaliger Lehrer aus einem der Dörfer in der Nähe. Die Brusttasche seines Hemdes war dick gefüllt mit Stiften. Er sagte, er werde die Yatra nur einen Tag lang begleiten. Ich fragte, ob er glaube, sie werde irgendwelche Auswirkungen haben.
»Wenn die Aufgabe groß ist und der Wunsch gut, kommt der Erfolg«, sagte er.
Wir gingen weiter.
»Glauben Sie an Gott?«, wollte er wissen.
»Nein«, sagte ich.
Ungläubig lächelnd sah er mich an.
»Aber Gott gibt uns die Luft, das Wasser, so vieles! Ihn nicht zu ehren und nicht an ihn zu glauben, ist undankbar.«
Ich konnte ihm nicht widersprechen. Aber genauso wenig konnte ich ihm zustimmen.
»Ich bin dankbar und ich ehre ihn. Ich glaube nur nicht an ihn.«
Unser Gespräch wurde von Jai unterbrochen, der zwischen uns hindurch nach vorn zum Wagen stürmte und mit den Fingern durch die Luft stocherte. Ein neues Lied hatte begonnen, und er wollte dabei sein.
*
Je mehr ich über die Yamuna-Yatra nachdachte, desto mehr erstaunte mich, wie viele verschiedene Traditionen sie vereinte. Da war zum einen natürlich die machtvolle Gewaltlosigkeit von Gandhis politischen Kampagnen. Dann das alte Ritual religiöser Pilgerschaft, nicht nur von Hindus. Doch als Amerikaner konnte ich unmöglich Zeit mit einer Truppe verwahrloster, der Natur ergebener, aktivistischer Asketen verbringen, ohne dass sich mir der Gedanke an Henry David Thoreau aufdrängte.
Kaum zu glauben, dass ein einziger, selbst ernannter Drücke berger verantwortlich war für zwei der besten Ideen der letzten 150 Jahre, aber in Thoreaus Fall hatte der Drückeberger eben ein paar Asse im Ärmel. Die erste Idee war die des zivilen Ungehorsams, den Thoreau benannt und erklärt hat und den er in begrenztem Maße, um das Konzept zu überprüfen, praktizierte. Ein halbes Jahrhundert darauf wurden seine Ideen zu einer maßgeblichen Inspiration Gandhis, der Thoreau als unverzichtbaren politischen Strategen betrachtete. (Ein weiteres halbes Jahrhundert später entdeckte Martin Luther King jr. Thoreaus Ideen.)
Die zweite Idee war, dass die Natur gut ist und gut für den Menschen. Die beste Art, spirituelle Vollkommenheit zu erreichen, sei die direkte Erfahrung der wilden, ungebändigten Natur. Das befreie den Geist vom lähmenden Lärm der Zivilisation. Thoreau war nicht der Einzige, der diese Idee verfocht – im 19. Jahrhundert lief schließlich ein ganze Horde Transzendentalisten herum –, aber er erläuterte sie mit so viel Humor und Gutmütigkeit und nach wie vor so verständlich für den heutigen Leser, dass er durchaus die gesamten Lorbeeren verdient hat. Jedes Mal, wenn jemand im Wald joggt, einer Naturschutzorganisation eine Spende zukommen lässt oder seinen Kreditkartenrahmen im Outdoorladen ausschöpft, sollte der Mann mit dem Charakterbart und dem Bohnenfeld dafür Tantiemen bekommen.
Thoreau zufolge ist der beste Weg, mit der Natur in Kontakt zu treten, der Spazierengang. Der Kerl machte aus jedem Nachmittag eine Yatra. Er verfocht das Spazierengehen, aber auch das Flanieren, Bummeln, Schlendern und vor allem das Pilgern. In seinem Essay Vom Spazieren macht er die etwas verschrobene Aussage: »Im Laufe meines Lebens habe ich nur ein oder zwei Menschen kennengelernt, die die Kunst des Gehens, will sagen, die Kunst des Spazierens beherrschten und sozusagen eine natürliche Begabung für das Pilgern besaßen.« Von da aus machte er sich sogleich daran, die Grenze zwischen Bummeln und religiöser Pilgerschaft zu verwischen, mit dem Argument, effektiv spazieren zu gehen bedeute, auf einer heiligen Reise ohne besonderes Ziel zu sein.
In der Vorstellung der Transzendentalisten sind Natur und Wildheit nicht bloß Symbole kosmischer Wahrheit, sondern ihre Verkörperung. Sich darin zu versenken erlaubt dem Geist folglich, sich zu entfalten. Doch dazu ist mehr als die bloße körperliche Präsenz nötig. Man muss auch mental spazieren gehen, sich seinen Sinnen hingeben, dem Geist gut zureden, damit er genau wie die Füße in der Natur herumwandert. »Was soll ich im Wald, wenn ich dabei an etwas denke, was
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