Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Preisgeld auf seinen Kopf ausgesetzt worden. Menschen wurden entführt. Shri Baba selbst wurde vergiftet.
Er fuhr sich mit der Hand über den Schädel, das Gesicht nach wie vor reglos. »Wir fürchten den Tod nicht. Ich betrachte mich bereits als tot.«
*
Wir fanden die Yatra am Abend etwa zwanzig Kilometer von Auraiya entfernt. Das Lager war auf einem Wiesengelände neben einer kleineren Landstraße aufgeschlagen worden. Der Fluss war nirgends zu sehen. Die Straßen und Wege an seinen Ufern seien nahezu unpassierbar, sagte man mir, vor allem für die Begleit-Lkws. Sunil, der Organisator des Marsches, hatte entschieden, die Yatra eine Weile am Highway 2 entlangzuführen. Bald würden wir wieder zur Yamuna zurückkehren, versicherte er mir.
Wir hatten einen ganzen Tag gebraucht, um dorthin zu gelangen. Mansi und ich waren von Maan Mandir neben einem hochgewachsenen, dunkelhäutigen Sadhu mit einem großartig verwilderten Bart gereist. Er trug ein einfaches, weißes Gewand und besaß nichts als eine kleine Digitalkamera und ein nicht funktionierendes Handy. Er hatte ein freundliches Gesicht, aber wir nannten ihn »Creepy Baba«, Grusel-Baba, weil er immer wieder versuchte, Mansi die Hand aufs Knie zu legen.
Eigentlich sollte Creepy Baba uns helfen, die Yatra zu finden, aber im Verlauf der Reise in diversen Jeeps, Bussen und einem völlig überfüllten Jeep-Bus zeigte sich, dass er für diese Auf gabe denkbar ungeeignet war. In Agra überredete er uns, in den falschen Bus einzusteigen, den wir erst nach einem kurzen Schlagabtausch mit dem Fahrer und einem Großteil der Fahrgäste verlassen konnten.
»Oh Gott«, sagte Mansi. »Wer weiß, wohin uns Creepy Baba bringt.«
Sunil holte uns in Auraiya ab und fuhr uns zum Lager, wo uns zur Begrüßung eine Schar Sadhus überfiel. Über Mansi fragten sie mich immer wieder, wie ich von der Yatra erfahren hatte. Als ich sagte, ich hätte darüber in der Zeitung gelesen, online, wollten sie wissen, in was für einer Zeitung. Ich hatte keine Ahnung.
»War es vielleicht die Times of India? «, fragte einer.
Ich kannte die Times of India und wusste, dass sie auf Englisch geschrieben war. »Kann sein«, antwortete ich.
»Times of India!«, rief er der versammelten Menge zu.
Dann wurde mir ein Handy in die Hand gedrückt. Als man es mir wenige Augenblicke später wieder entriss, war ich von einer Zeitung aus Agra interviewt worden. Ich weiß das, weil Mansi mir später ein ausführliches Zitat aus einer Tageszeitung für Agra in Hindi vorlas – angeblich stammte es von mir, dabei hatte ich kein einziges Wort davon gesagt.
Der Mann, der mich nach der Times gefragt hatte, hieß Jai. In Shri Babas Abwesenheit war er der Anführer der Sadhus auf dem Marsch. Shri Baba verlässt das Land Krishnas nie, er stieß erst zu der Yatra, als sie Braj erreichte. Die Sadhus trugen ein Paar seiner Schuhe mit sich, damit er im Geiste dabei sein konnte.
Jai war nun schon seit zehn Jahren ein Anhänger Shri Babas. Der ehemalige Sozialarbeiter lebte in Maan Mandir und war ein fast krampfhaft liebenswürdiger Mann. Auf Hindi entschuldigte er sich dafür, kein Englisch zu sprechen. Auf Englisch entschuldigte ich mich, kein Hindi zu sprechen. Um ja nicht übertrumpft zu werden, machte er eine komplizierte Pantomime, bei der er die Luft vor meinem Mund ergriff und zu seinem Ohr führte, um dann erneut entschuldigend die Hände zu heben.
»Nein«, sagte ich. » Ich muss mich entschuldigen.«
Wir lebten während der Yatra sehr spartanisch, aber sie war gut organisiert. Die Zelte aus grünem Segeltuch waren groß und stabil, vielleicht von den Briten bei ihrem Abzug 1947 zurückgelassen. An jedem Zelt hing eine grelle Glühbirne an einem alten Kabel, das sie mit dem Generator verband. Es gab einen Wassertank aus Stahl auf einem Anhänger, einen Backofen für Fladenbrot auf einem Pick-up und eine Gruppe von mindestens sechs Mann, deren Aufgabe es war, vorauszufahren, ein Lager zu errichten und zu kochen. Wir mussten nichts tun außer laufen.
In Indien gibt es eine lange Tradition politischer Märsche. Unsere Yatra fiel mit dem Jahrestag von Gandhis berühmtem Salzmarsch zusammen, der Yatra aller Yatras. Über drei Wochen lang im Frühjahr 1930 marschierte Gandhi mit einer wachsenden Schar von Anhängern zum Meer, wo sie aus Meerwasser Salz gewannen und so symbolisch das Salzmonopol der Briten verletzten. Unterwegs sprach Gandhi immer an den Abenden zu den Demonstranten und zu den Tausenden
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