Willkommen im sonnigen Tschernobyl
die ersten Helfer nach dem Unglück bekamen jede Stunde, die sie auf dem Reaktordach arbeiteten, ein Vielfaches davon ab.
Donner ließ das Fenster zittern. Mit geübtem Schwung öffnete Julia die aufklappbare Vorderseite des Modells. Dahinter wurde ein Querschnitt des Reaktorinneren sichtbar, eine akribisch rekonstruierte Ruine. Mit dem realen Gebäude im Blick vermittelte das Modell ein intuitives Verständnis der ungeheu ren Ausmaße des Reaktors – und des Unfalls, durch den er zer stört wurde. Beim schnellen Hin-und-her-sehen war es, als könnte ich geradewegs durch die Wände des Stahlbetonmantels ins Innere des Gebäudes blicken. Während Julia weiter Zahlen und Fakten abspulte, hob sie mit den Fingerspitzen das Dach vom Maschinenhaus – eine überdimensionierte Fünfzigerjahre- Hausfrau, die ein majestätisches Stück Tupperware vorführt.
Die Zerstörung im Inneren war vollkommen. Die Abdeckung des Reaktors, eine zweitausend Tonnen schwere Bleiplatte, war bei der Explosion zur Seite geflogen und hing nun gefährlich auf dem Reaktorkern. Der Kern selbst, ein dicker, hoher Behälter, war so groß wie ein kleines Haus. Es ist kaum zu begreifen, für welche Mengen Energie eine solche Anlage steht. Nur sieben Gramm Kernbrennstoff ergeben so viel Energie wie eine Tonne Kohle, und im Reaktorkern befand sich über hunderttausend Mal so viel.
Aber nun war er leer. Ein Teil des Brennstoffes – niemand weiß genau, wie viel –, wurde bei der Explosion und dem Brand hinausgeschleudert. Der Rest schmolz durch den Reaktorboden und bahnte sich als radioaktive Lava einen Weg durch die unteren Geschosse der Anlage. Dort befindet er sich noch immer und strahlt nach wie vor so stark, dass niemand sich ihm nähern kann. Julia zeigte auf eine Fotografie an der Wand, auf der ein Teil der Lava zu sehen war: ein rissiger Zylinder mit einem breit ausgewalzten, runden Boden. »Das ist Elefanten fuß. Ist berühmtester Block radioaktiver Lava, in Keller von Gebäude.« Sie wandte sich wieder dem Modell zu und deutete auf eine Reihe kleiner Fähnchen, die im Reaktorkern und im Gebäude verteilt waren. »Dies sind Temperatur- und Radioaktivitätssensoren«, erklärte sie. »Sie sind von Tschernobylarbeitern dort platziert worden.«
Ich konnte es kaum glauben. Es waren tatsächlich Menschen in den Reaktorkern hineingegangen?
Julia nickte. »Ja. Arbeitsrhythmus ist 15 Minuten.«
Die Vorstellung, dass jemand sich in den leeren Kern abgeseilt hatte, machte mich ganz schwindelig. Julia fuhr fort, nun fasste sie die zahllosen Probleme des Sarkophags zusammen. Die Wände hatten überall Löcher und kleine Risse. Wenn irgend eines der zerfallenden Trümmerteile im Inneren verrutscht oder hinunterfällt, könnte radioaktiver Staub aufgewirbelt werden und nach außen in die Atmosphäre dringen. Durch die Lücken in den Wänden sind inzwischen Hunderte Liter Regenwasser ins Innere gelangt, Wasser, das vermutlich innen an den Wänden heruntergeronnen ist und eine Art radioaktive Suppe gekocht hat, die wiederum ins Grundwasser sickern könnte.
Das Schlimmste vielleicht war, wie Julia strahlend darlegte, dass niemand so genau wusste, wie viel radioaktives Material sich noch in dem Reaktor befand, wo es war und was es vorhatte. Einige Wissenschaftler haben sogar darüber nachgedacht, ob das tröpfelnde Regenwasser Fremdstoffe aus der erstarrten Lava herauswaschen und sich der radioaktive Brennstoff langsam anreichern könnte. Dann wäre der Brennstoff eines Tages womöglich wieder so rein, dass es erneut zu einer Kettenreaktion kommen würde und im Untergeschoss des Reaktorgebäudes ein unkontrollierbares nukleares Lagerfeuer entstünde. Aber selbst wenn das nicht geschieht, könnte der Schutzmantel eines Tages einfach in sich zusammenstürzen. Die Westwand, teilweise gestützt durch die zerfallende Bausubstanz, hat sich vor Kurzem erst verschoben und so einen ersten kleinen Schritt Richtung Totalzusammenbruch getan.
Ich hatte genug. Ich bildete mir ein, im Donnergrollen draußen ein leises Schluchzen vom Reaktorgebäude her zu hören. Aber Julia war noch nicht fertig. Sie erzählte mir weiter von der Schutzhülle. Da ihre Schutzfunktion sich niemals erledigen wird, kann sie auch nie demontiert und durch etwas Besseres ersetzt werden. Zuerst wird das Ding daher stabilisiert, die Stützen gestützt und die Befestigungen befestigt werden. Und dann – was sonst? – wird ein Schutz für den Schutz gebaut. Ein neuer Sarkophag.
»Neuer
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