Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Vogelarten, die in der Region jahrzehntelang nicht gesehen wurden, seien plötzlich wieder aufgetaucht. Ökologen hätten dort sogar eine gefährdete Wildpferderasse neu angesiedelt. Und ich selbst hatte überall, außer im Reaktorkomplex selbst, eine überbordende Natur gesehen. Trotz – oder vielmehr wegen – der Strahlung hatte sich Tschernobyl zum größten Wildtierreservat der Ukraine, vielleicht sogar ganz Europas entwickelt.
Diese Wendung deutet auf eine gewisse Arroganz der Menschen hin was unsere destruktiven Kräfte angeht. Es ist reine Selbstüberschätzung zu glauben, wir könnten die Natur zerstören oder die Welt zugrunde richten. Das ist die andere Seite der egoistischen Wünsche so mancher Industrieller, sie auszubeuten und zu kontrollieren. Es ist wahr, dass wir ganze Kontinente von Wäldern abholzen, Arten zu Tausenden vernichten und sogar einen Klimawandel herbeiführen können. Aber wenn wir einmal nicht mehr da sind, wird die übrige Natur, wie nach so vielen Katastrophen, aufblühen und über, durch und aus uns herauswachsen. Die Apokalypse, die wir auslösen können, ist eine für uns und unsere Artgenossen, nicht für das Leben auf der Erde schlechthin.
Wir nahmen einen anderen Weg zurück und durchquerten das Denkmal für den Zweiten Weltkrieg, einen Bogengang im Wald. Das Herzstück war eine weiße, etwa zehn Meter hohe Säule mit einem großen Bronzestern an der Spitze. Jemand hatte frische Blumen an den Sockel gestellt.
Endlose Katastrophen waren über diese Landschaft hinweggegangen. Im Zweiten Weltkrieg – lange bevor es dort irgendwelche Kernreaktoren gegeben hatte – war sie Schauplatz brutaler Kämpfe gewesen. Als Partisanen sich der deutschen Besatzung widersetzten, mussten die Bewohner unter den mörderischen Vergeltungsmaßnahmen der Nazis leiden. Und nach dem Krieg suchte sie eine furchtbare Hungersnot heim.
Vor diesem Hintergrund kann kaum die Rede davon sein, das Unglück von 1986 sei das Schlimmste gewesen, was das 20. Jahrhundert Tschernobyl zu bieten hatte. Die Umsiedelung wegen des Störfalls war enorm, doch sein Erbe in Form von Krankheiten und Todesfällen ist nach wie vor umstritten.
Im öffentlichen Bewusstsein steht Tschernobyl für Krebs,
Missbildung und Tod. Selbst heute noch, ein Vierteljahrhun dert später, gibt es unzählige Wohltätigkeitsorganisationen, die sich um die »Kinder von Tschernobyl« kümmern – nach dem Unfall geborene Kinder, die Krebs oder Geburtsfehler haben, die auf die Nachwirkungen des Unglücks zurückgeführt werden. Doch das Tschernobylforum (eine Arbeitsgemeinschaft aus mehreren Organen der UNO und den Regierungen der Ukraine, Weißrusslands und Russlands) behauptet, abgesehen von der epidemischen Verbreitung von Schilddrüsenkrebs unter den Kindern, die während des Unglücks in der Zone lebten, sei noch keine erkennbare Steigerung der Krebsrate in der Region nachgewiesen worden. Die Prognose des Forums über den wahrscheinlichen Anstieg der Zahl der Krebstoten ist erstaunlich niedrig gehalten, sie liegt bei etwa fünftausend. Und es geht davon aus, dass weniger als hundert Menschen infolge der unmittelbaren Auswirkungen des Unglücks ums Leben gekommen sind. Solche Schätzungen machen Organisationen wie Greenpeace wahnsinnig, deshalb haben die ihre eigenen Berechnungen angestellt. Ihr Ergebnis: fast hunderttausend Krebstote in Zukunft und sechzigtausend, die bereits gestorben sind. Wer weiß, vielleicht ist die UNO ja ein Handlanger der Atomindustrie.
Grundsätzlich ist es einfach schwer zu akzeptieren, wie we nig man mit Sicherheit über die Auswirkungen der Katastrophe auf Mensch und Tier sagen kann. Und es fällt auch schwer zu akzeptieren, dass die Tschernobylkinder vielleicht einfach nur ganz gewöhnliches Pech hatten und ihre Krankheiten nichts mit dem radioaktivem Fallout zu tun haben. Dass die traumatischsten Effekte des Unglücks vielleicht sozialer und psychischer Art waren, nicht strahlungsbedingt. Dass Tschernobyl – und das Elend der Menschheit – unseren Erwartungen unter Umständen nicht gerecht wird.
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Früh am nächsten Morgen erwachte ich im einzigen Hotel des Sperrgebiets mit den Symptomen akuter Strahlenkrankheit.
Entzündung und Druckempfindlichkeit exponierter Hautstellen. Übelkeit und Dehydratation. Erschöpfung und Desorientierung. Kopfschmerzen. Habe ich die Übelkeit schon erwähnt? Ich trug noch meine Klamotten vom Vortag und lag, alle viere von mir gestreckt, auf einer zerwühlten rosa
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