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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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Sarkophag wird nicht nur ein Schutzmantel«, trug Julia vor, »sondern ein technologischer Komplex. « Sie zeigte auf ein paar Skizzen des Objekts: ein hoher Bogen aus glattem Beton, der sich in geometrischem Schwung über das ganze Chaos erhebt. An der Innenseite werden Roboterkräne den alten, zerfallenden Schutzmantel warten. Der neue Sarkophag, wenn er denn tatsächlich gebaut wird, soll über 150 Jahre halten. Das Reaktorgebäude wird jedoch noch für Jahrtausende eine Gefahr darstellen. Also gibt es vielleicht irgendwann einen Schutz für den Schutz des Schutzmantels und dafür noch einen, und wir bauen über Generationen hinweg Stück für Stück eine gigantische radioaktive Matrjoschka.
    Zerzaust und regennass, aber immer noch mit Sonnenbrille, erschien Dennis in der Tür und winkte mich zu sich. Julia begleitete mich hinaus. Dabei sprach sie in einem fort über den Mangel an Geldern für den neuen Sarkophag oder auch nur für die Stabilisierung des alten. Sie betonte, die Ukraine sei auf internationale Hilfe angewiesen. Vielleicht hoffte sie, ich werde die Nachricht ans Weiße Haus oder die Vereinten Nationen weitergeben. Für Tschernobyl trage die ganze Welt die Verantwortung, sagte sie. Außerdem sei die Ukraine pleite.
    Als er in den Sturm hinaustrat, rief Dennis: »Hier kannst du ein Foto machen, und dann gehen wir!« Aus dem Besucherzentrum heraus war fotografieren nicht erlaubt – nicht, dass ich dazu Lust gehabt hätte. Ich stellte mich gegen den Wind, machte eine einzige, regenbesprenkelte Aufnahme des Sarkophags, sprang ins wartende Auto und Nikolai gab Gas.
    So schnell, wie der Sturm aufgezogen war, war er auch schon vorüber. Die Wolken rissen auf, als wir an den halb fertigen Reaktorblöcken Nr. 5 und 6 vorbeifuhren. Die Sonne kam wie der hervor. Ein dampfender Vorhang in Regenbogenfarben stieg vom Asphalt auf. Dennis lachte über einen Kommentar von Nikolai und zeigte auf die Straße. »Wir haben einen Witz gemacht, dass man die Strahlung jetzt sehen kann«, sagte er.
    Auf Dennis’ Anweisung bog Nikolai scharf rechts ab, wir schossen einen Hang hinauf und fuhren auf eine lange, verlassene Brücke über den Fluss. Es war der Pripjat, der durch die gleichnamige Stadt und am Reaktorkomplex von Tschernobyl vorbeifließt. Das Kühlwasser des Kernreaktors wird in diesen Fluss abgeleitet. Der Pripjat mündet in den Dnjepr, der Kiew durchfließt und das wichtigste Wasserreservoir der Ukraine bildet. Man könnte ihn den ukrainischen Mississippi nennen, nur dass es in Minneapolis bisher noch keine Kernschmelze gegeben hat.
    Dass Dennis uns dort hingebracht hat, war vermutlich ein Zugeständnis an meine Bitte um eine Tour zu den »netten Ecken« der Zone. Nikolai stellte den Motor ab, wir stiegen aus und gingen über die leere Straße zur anderen Seite der Brücke. Der Fluss erstreckte sich bis zum Kraftwerk, das aus dieser Entfernung wie eine Miniatur aussah. Dennis und Nikolai steckten sich Zigaretten an, wir lehnten uns an die Leitplanke und starrten in die Landschaft. Das kaffeebraune Wasser des breiten Flusses schimmerte im warmen Sonnenlicht und plätscherte gegen ein sumpfiges, mit Gräsern und Schilf bewachsenes Ufer. Hinter den kleinen Umrissen des Kühlturms und des Reaktorgebäudes am Horizont zogen sich dunkle Gewitterwolken zurück. In der Zone herrschte wieder Frieden. Der offizielle Teil der Tour war vorbei.
    *
    In der Zentrale aßen Dennis und ich schnell, aber mit Stil. Im Esszimmer lief eine Klimaanlage (die Fernbedienung dafür sah aus wie mein Strahlungsdetektor), auf dem Tisch lag ein besticktes Tischtuch, und es gab mehrere Gänge: Fleisch, Käse und Gemüse (nicht aus der Region). Dennis hatte zum ersten Mal seine Sonnenbrille abgesetzt. Er schien sich unwohl zu fühlen bei direktem Lichtkontakt. Wir saßen steif am Tisch und die Unterhaltung lief schleppend. Vielleicht machte er sich auch Sorgen, er könnte den Anfang des Fußballspiels verpassen. Als ich ihm sagte, er müsse nicht auf mich warten, entschuldigte er sich sofort und ging nach oben.
    Als ich dazukam, hatte das Spiel schon angefangen. Was ich mir als zünftige Versammlung von fußballverrückten Zonenarbeitern erträumt hatte, war in Wirklichkeit ein tristes Grüppchen von fünf Leuten: außer mir nur Dennis, Nikolai und zwei müde Sekretärinnen mittleren Alters von der Tschernobylbehörde. Zumindest waren wir gut versorgt mit Wodka, Cognac, Cola und irgendeinem eingelegten Fisch. Die ganze erste Halbzeit fiel kein

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