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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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Schrecken, vertrieb sie aus ihrer Heimat und beschwerte ihre Gesundheit mit Zweifel, einer kaum zu ertragenden Unsicherheit, die die gesamte Region mindestens eine Generation lang verfolgen würde. Darin unterschied sich die grüne Blase der Zone von allen anderen Oasen der Welt: Sie war gewaltsam entstanden. Etwas Bestimmtes hatte sie hervorgebracht.
    Am anderen Ende der Brücke, die aus Pripjat hinausführte, ließ Nikolai den Wagen ausrollen. Dennis drehte sich um. »Vielleicht willst du ein Foto machen?«, schlug er vor. Ich war verwirrt. Warum hier? Doch dann wanderte mein Blick zum Horizont, und zum ersten Mal sah ich ihn: den Reaktor.
    Dort kauerte er am Horizont, etwa anderthalb Kilometer entfernt. Der vergitterte Kühlturm erhob sich über ein schreckliches Durcheinander von gestützten Stahlbetonwänden – den Sarkophag, wie der Schutzmantel um den zerborstenen Reaktor genannt wird. Er schien über einem niedrigen Wäldchen zu schweben und strahlte eine fremdartige, gewaltige Präsenz aus – wie ein verunglücktes Raumschiff.
    Als wir den Reaktorkomplex schließlich erreichten, war das Wetter umgeschlagen. Wenige Augenblicke, nachdem ich den Sarkophag zum ersten Mal gesehen hatte, hörten wir es aus südöstlicher Richtung donnern, und nun hatte sich eine dicke Wolkendecke über den Himmel geschoben und schwere Regentropfen klatschten auf das Autodach. Auch die Umgebung hatte sich verändert: nur noch abweisende Betonflächen und gedrungene Bauten – die Infrastruktur zur Wartung des Reaktorgebäudes. Durch die regenüberströmte Windschutzscheibe sah ich ein verbogenes Metalltor und zwei Betonwände mit nachlässig gewickelten Stacheldrahtspiralen, die uns den Weg versperrten.
    Jenseits davon, umgeben von einigen hoch aufragenden gelben Baukränen, befand sich der Sarkophag. Wieder überwältigte mich seine ungeheure Größe. Die verzahnten Stahlbetonwände bildeten ein gigantisches fahlgraues Gewölbe, sechzig Meter hoch, rostdurchzogen, auf einer Seite gestützt von langen, dünnen Streben, auf der anderen von den riesigen Stufen einer Betonwand. Rohre und Teile des Baugerüstes lehnten an den Mauern, deren Flächen von einem Gitter aus massiven Stahlträgern durchbrochen waren. Stege führten entlang der zahllosen Dachkanten und hohe, schattige Nischen kerbten die Nordwand ein wie Zinnen, zwischen denen riesige Bogenschützen Pfeile auf die Landschaft regnen lassen könnten.
    Ich hatte mir diesen Moment anders vorgestellt. Ich hatte geglaubt, das Reaktorgebäude zu besuchen, sei grundsätzlich nicht anders als eine Besichtigung des Eiffelturms oder Taj Mahals. Diese Vorstellung machte das immer stärker werdende Gewitter jedoch zunichte, und ich empfand stattdessen einen instinktiven Widerwillen. Es war obszön, dieses Ding . Ein Monument der Brutalität, die Festung eines Wahnsinnigen, von innen heraus belagert. Und im Gegensatz zu anderen Gebäuden oder Monumenten war es lebendig. Es verbreitete Gefahr und Furcht, hatte das Land im Umkreis von Kilometern entstellt, eine eigene Natur geschaffen und dem Sperrgebiet Leben eingehaucht.
    Es gab dort ein Besucherzentrum. Keinen Souvenirladen, dafür aber Diagramme, Fotografien und ein einmaliges, maßstabgetreues Modell des Schutzmantels. Im Besucherzentrum erwartete mich Julia, eine ernste Frau in den Vierzigern, die mir kurz die Hand schüttelte und dann einen Schwall an Informationen zu dem Störfall und dem Reaktorgebäude über mich ergoss. Vieles davon wusste ich bereits, aber in dem aggressiven ukrainischen Akzent einer Sperrgebietsbürokratin bekam es noch einmal eine ganz andere Note. Durch das Aussichtsfenster des Zentrums hatten wir die weltbeste Aussicht auf den Sarkophag, der immer bedrohlicher wirkte und in diesem Moment von Blitzen erhellt wurde. Das verlieh dem Vortrag zu sätzlich eine dramatische Komponente. Wem das noch nicht ge nügte: Über dem Fenster konnte man von einer Digitalanzeige unsere momentane Strahlenbelastung ablesen – 138 Mikroröntgen.
    »Sarkophag wurde in 106 Tagen gebaut «, sagte Julia. »Strahlungswerte an Nordseite von Gebäude nach Unfall erreichten zweitausend Rem pro Stunde.« Sie wedelte mit der Hand über das Modell, ein perfekter, etwa fünfzig bis hundert Zentimeter großer Nachbau. »Auf Gebäude erreichten sie dreitausend Rem pro Stunde. Das ist entsetzlicher Wert . Das sind Gebiet, wo Feuerwehrmänner gearbeitet haben.« Mir war ein wenig übel. Schon einige Hundert Rem können tödlich sein, und

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