Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Tor, aber wir fanden trotzdem Gelegenheiten, uns zuzuprosten: eine gute Parade hier, ein knapper Fehlschuss da. Wir hielten unsere Gläser in die Höhe, warteten ein paar Worte auf Ukrainisch von Dennis oder Nikolai ab und tranken. Die Sekretärinnen warfen mir vor jedem Schluck Wodka bedeutungsvolle Blicke zu – ich beschloss sie als Bestätigung meiner Integration zu deuten.
Schließlich schaffte die Ukraine noch einen Treffer bei einem umstrittenen Elfmeter. Die letzten Minuten vergingen, am Ende stand es 1:0 und die Ukraine war eine Runde weitergekommen. Nikolai trommelte zur Feier auf den Tisch und Dennis schenkte nach. Er sah mir in die Augen, wir hoben die Gläser.
»Auf den Sieg«, sagte er.
*
Danach gingen Dennis und ich mit unseren Bierflaschen vom Kiosk in der Hand spazieren. Es war ein wunderschöner Freitagabend, immer noch warm von der Sonne, und die Stadt war ruhig. Ruhig ist es hier wohl immer. Der einzige Mensch außer uns war Lenin. Er stand allein auf einem flachen Betonsockel, die Hände in den Taschen, als wartete er auf den Bus.
In der Ferne fuhr ein Auto vorbei, und wir versteckten die Bierflaschen in unseren Jacken. »Wir dürfen draußen in der Stadt kein Bier trinken«, sagte Dennis. »Wenn das die Polizei ist, könnte es Ärger geben.« Für einen Augenblick fühlte ich mich wie ein gelangweilter Jugendlicher in der Provinz, wo man freitagabends nichts anderes tun kann, als durch die Straßen zu laufen und sich zu betrinken. Gegenüber von Lenin, neben der Kirche, befand sich das Freizeitzentrum. Dennis sagte, dort könne man normalerweise Tischtennis spielen, aber übers Wochenende war das Zentrum geschlossen. Zuerst kein Kanufahren, dann kein Pilzesammeln und nun auch noch kein Tischtennis? Diesen Leuten müsste man wirklich mal ein bisschen Gastfreundschaft beibringen.
»Komm, ich zeig dir die netten Ecken der Stadt«, schlug Dennis vor. Wir schlenderten zum Stadtrand und dann einen zugewachsenen Wirtschaftsweg hinunter zum Wasser. Jetzt nach Dienstschluss hatte Dennis seine formelle, quasi-militärische Haltung als Reiseführer abgelegt und amüsierte sich einfach. Er zeigte auf das dichte Gestrüpp, das schon die Straße überwucherte. »Da drin könnten Wildschweine sein«, sagte er. »Sie verstecken sich gern in solchen Büschen. Manchmal springen die Muttertiere heraus und greifen an. Wenn das passiert, musst du auf etwas sehr Hohes klettern, so wie das hier …« Er zeigte auf einen sehr hohen Betonstrommast am Straßenrand.
Ich betrachtete ihn skeptisch. »Das schaffe ich nie«, sagte ich.
Dennis nahm einen Schluck Bier und lächelte. »Wenn das Wildschwein angreift, lernst du schnell.«
Am Flussufer blieben wir stehen und sahen uns den Sonnenuntergang an. Die Wasseroberfläche war glatt und ruhig. Beiläufig fragte ich mich, ob die Riesenmücken, die uns umschwirrten, Mutanten waren, und ob wir vielleicht einen dreiäugigen Fisch zu Gesicht bekommen würden. Ein paar Mutanten würden der Zone den gewissen Kick geben. Aber das höchste der Gefühle waren die verkrüppelten kleinen Bäume im Roten Wald und ein paar unspektakuläre Abweichungen bei der Gefiederfärbung der Vögel, der Wurfgröße des Schwarzwildes und wer weiß, wo sonst noch. Zweiköpfige Hunde gab es dort jedenfalls nicht.
Die Welt stellt sich Tschernobyl als einen Ort vor, an dem die Menschheit die Natur überwältigt und zerstört hat. Der Begriff »Todeszone« fällt immer wieder. Aber er passt nirgendwo weniger als hier während des Sonnenuntergangs – wohin ich auch sah: nichts als Wasser, Sonne und Bäume. Paradoxer- und perverserweise war das Reaktorunglück vielleicht sogar ein Segen für die Natur hier. Die Strahlung ist zwar für keinen Organismus richtig gesund, aber sie hat immerhin die Menschen so effektiv aus dem Sperrgebiet ferngehalten, dass es für Tschernobyl ein Zurück zur Natur gegeben hat, ein großes, ungeplantes Experiment: Naturschutz durch Umweltverschmutzung. Über Jahrzehnte hat die wilde Natur den Ort zurückerobert, wuchs dort hinein, wo die Zivilisation sie sofort zurückgedrängt hätte, und besetzte den Raum, den einst die Menschen für sich beanspruchten.
Wenn die Zone ein gigantischer radioaktiver Nationalpark war, dann war Dennis der in sie verliebte Pfadfinder. Als wir zurück in die Stadt gingen, erfüllte Vogelgezwitscher die Luft, und er erzählte mir mit unübersehbarem Stolz von Wissenschaftlern, die in die Zone kamen, um Wildtiere zu beobachten.
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