Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Jahr nach der Eröffnung des Terminals, 2004, war die Anbaufläche für Soja in der Region auf 35 000 Hektar gestiegen (ein Zuwachs von zweitausend Prozent in fünf Jahren) und die Preise für Land hatten sich verdreißigfacht. Die ortsansässigen Bauern standen unter dem immer stärker werdenden Druck, ihr Land an die Sojafarmer zu verkaufen. Bald wurde Soja zum obersten Feind des Regenwalds erklärt, Greenpeace-Aktivisten kletterten auf das Cargill-Terminal – wie sie auf die Baufahrzeuge in den Ölsandgebieten geklettert waren – und bei McDonald’s in Großbritannien tauchten Demonstranten verkleidet als Hühner auf, um gegen den Einsatz von brasilianischem Soja als Hühnerfutter zu protestieren. Soja hatte Hochkonjunktur.
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Der Highway im Dunkeln. Wir spulten Kilometer um Kilometer auf dem BR -163 ab. Hier, kurz vor Santarém, war die Straße asphaltiert und ohne Schlaglöcher. Unser Fahrer raste südwärts. Er war ein vergnügter, korpulenter Mann, dessen Spitzname übersetzt »Mango« bedeutet.
Ortshinweise an der Straße wurden hier nicht durch entsprechende Schilder oder Straßennamen gegeben, sondern durch ihre Kilometernummern. Wir mussten eine Abzweigung im unteren Siebzigerbereich nehmen, wo wir ein paar Leute treffen sollten, die im Regenwald Bäume fällten – vollkommen legal. Es handelte sich um ein nachhaltiges Abholzungsprojekt, also leider nichts, worüber man sich aufregen müsste.
Wir sahen die Morgendämmerung durch die getönten Scheiben von Mangos Wagen sich allmählich aufhellen und erkann ten, wo wir waren: im Regenwald – genau! Ein paar Tage Santarém konnten einen zerknirschten Ausländer fast vergessen lassen, dass er gekommen war, um den Dschungel zu sehen: die riesige grüne Lunge, Amazonien, von wo aus Unmengen an Wasser über ganz Amerika zirkulieren und (dort) die gesamte Wetterlage bestimmen. Das Baumkronendach flog über uns hinweg, aus den Wipfeln stieg Nebel auf. Rechter Hand lag die Grenze des Tapajós-Nationalparks und die Bäume reichten bis dicht an die Straße heran. Gil hielt Ausschau nach Kilometermarkierungen. Auf der linken Seite sah man abwechselnd Wald und Weideland – und dann kam ein Sojafeld: kilometerweit nur Flächen mit nackter Erde, die bis zu einem kleinen Rest Wald in der Ferne reichten.
Wir erreichten das Holzfällercamp gegen sieben Uhr morgens. Dort gingen wir in einen kahlen, holzgetäfelten Raum im Haupt gebäude, in dem Männer und Frauen mit Schutzhelmen und Ar beitskleidung im Kreis standen und bei immer wieder aufkommendem Gelächter und Applaus Informationen austauschten. S chließlich reichten sie sich die Hände und beteten. Dann gingen wir hinaus, kletterten auf die Ladefläche eines großen, geschlossenen Lkw, der über einen ausgefahrenen Wirtschaftsweg rumpelte und uns in Richtung Tapajós tief in den Nationalpark hineinbrachte. Wir waren mit dem Ambé-Projekt unterwegs.
Allein die Vorstellung, in einem geschützten Wald Holz zu fällen, wird für die meisten Menschen, zumindest für die, die keine Holzfäller sind, vollkommen abwegig sein. Doch was bedeutet geschützt überhaupt? Hier im Nationalpark war den Leuten, die am Rand des Regenwalds leben, »nachhaltiges« Fällen erlaubt. Die Idee dabei ist, Alternativen zu Brandrodung und illegalem Abholzen zu bieten, die ihnen zu wirtschaftlicher Ent wicklung und einem verbesserten Lebensstandard verhelfen, ohne den Wald ernsthaft zu gefährden.
Der entscheidende Punkt ist, dass die Menschen, für die der Wald ihre Heimat ist, auch ihr Geld mit ihm verdienen. Denn sobald sie von ihm abhängig sind, steigt ihr Interesse daran, ihn zu erhalten – sie können nur so lange vom Wald leben, wie er existiert. Und auf einmal steht zwischen dem Dschungel und den Heerscharen illegaler Holzfäller und Sojafarmer, die die Vorschriften verletzen, nicht mehr nur ein dösender Forstmeister. Die Macht des Nicht vor meiner Haustür wird mit der Notwendigkeit verknüpft, den Regenwald zu schützen.
Als wir den Wald betraten, veränderte sich die Luft und wurde plötzlich intensiv und erdig. Feuchtigkeit und Schatten milderten die Hitze des Tages. Der Lkw setzte uns ab und fuhr davon, während wir einem kleinen Vermessungsteam bei seiner morgendlichen Runde folgten. Ich lauschte den Geräuschen des Dschungels: Piepsen und Kreischen, Krächzen und Tirillieren und Töne, die von einem Vogel oder Insekt stammen mussten, aber so klangen, als würde jemand über den Rand einer Glasflasche blasen.
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