Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Klangkaskaden, die von Insekten stammten, jedoch fast elektronisch wirkten. Rufe und ihre Echos. Geräusche, die mir aus Filmen und Ausstellungen seltsam vertraut waren. Der Dschungel lebt von seiner Klanglandschaft.
Das Kontrollteam machte seine Arbeit. Ich trottete hinter einem fröhlichen Mann mit Machete her und gab mir Mühe, nicht in Reichweite seiner schwingenden Klinge zu geraten.
Ich fragte mich, weshalb ich so stark schwitzte. Im tiefen Schatten unter den Bäumen war es nicht heiß – und doch war ich schweißgebadet. Noch nie, nicht einmal in Momenten vollendeter Fitness-Seeligkeit habe ich so geschwitzt. Mein Hemd war klatschnass. Die Haare. Die Arme. Als wäre ich in einen Platzregen gekommen. Sogar der Schutzhelm auf meinem schwitzenden Kopf schwitzte. Von seinem Rand tropfte Wasser. Wie war das möglich? Die Frage drängte sich auf. Wie kann ein Schutzhelm aus Plastik schwitzen?
Ein schmerzhafter Stich im Oberschenkel. Ich sah hinunter: Ein grüner Dolch steckte in meinem Bein. Seine stachligen Brüder zeigten von den Ästen ringsumher auf mich. Ich zog den fünf Zentimeter langen Dorn heraus. Der lehmige Fäulnisgeruch, der die Luft erfüllte, bekam plötzlich eine neue Bedeutung: Es war der Geruch des zerfallenden Dschungels, der alles verdaute, was sich nicht mehr bewegte. Das Amazonasbecken war nicht nur eine Lunge, es war auch ein Magen.
Nach dem morgendlichen Kontrollgang kehrten wir zurück zur Zufahrtsstraße und gingen sie ein Stück entlang bis zum Treffpunkt für den Lkw. Nach jeder Biegung bot sich ein neuer Anblick – ein weiterer hoch aufstrebender Baumriese mit Blätterkrone über einem sagenhaft schlanken Stamm. Ein leuchtend blauer Fleck, halb so groß wie meine Handfläche, tauchte auf – ein Schmetterling. Adam beugte sich über eine Schlange am Straßenrand. Mitten auf dem Weg hing ein dünnes, saftig grünes Seil vom Himmel herunter. Ich nahm es und spürte die elastische Verbindung zwischen meiner Hand und der Baumkrone hoch über mir – dann zog ich daran. Es riss ab und wickelte sich Stück für Stück auf meine Schultern herab.
Gil war mit seinem iPod touch überall. Statt ihn zu verkaufen, hatte er sich in ihn verliebt und ihn behalten. Nun streifte er hin und her und machte Videoaufnahmen.
Gil hatte einen besonderen Bezug zu diesem Ort. Bevor er zum Schutzgebiet erklärt wurde, hatte die Familie seines Großvaters hier gelebt. Sie waren eine kleine Kolonie gewesen, etwa ein Dutzend Familienmitglieder hatte damals von einem Stück Land gelebt, das Gils Großvater für besonders fruchtbar hielt. In den frühen 1970ern hatte die Regierung jedoch beschlossen, das Areal zum Tapajós-Nationalpark zu erklären und viele Menschen von dort vertrieben. Auch Gils Großvater war gezwungen worden, sein Land zu verkaufen.
»Es war eine angemessene Summe«, sagte Gil. Aber für die Familie war es eine Katastrophe. Statt gemeinsam Landwirtschaft zu betreiben, mussten sie sich neue, ungewohnte Jobs suchen. »Als Lastwagenfahrer, Goldsucher und Fischer«, zählte Gil auf. Ein Onkel hatte ein Bordell eröffnet und war in einem Sumpf aus Drogenhandel und Gewalt versunken.
Gil glaubte nicht, es sei falsch gewesen, den Nationalpark zu schaffen – nur habe man es nach dem falschen Modell angepackt. »Weißt du, damals richtete man sich nach dem Vorbild des Yellowstone-Nationalparks in den USA «, erklärte er.
Er hätte kein passenderes Beispiel wählen können: Der Yellowstone war der erste Nationalpark der Welt und seine Gründung im Jahr 1872 markierte den Beginn einer echten Liebe der weißen Amerikaner zu dem herrlichen Land, das von ihnen erobert worden war. Doch damit diese Liebe wachsen konnte, musste das Ideal einer Wildnis als Quelle der Faszination und der Regeneration vom Abscheu gegenüber den amerikanischen Ureinwohnern getrennt werden, deren Anwesenheit im Westen unsere Vorstellungen im Stile eines John Muirs nur störte.
Muir, der heilige Franziskus des amerikanischen Westens und ein Prophet des Wildnisschutzes, gab selbst zu, dass er die Ureinwohner, denen er begegnete, kaum ertrug. Im Jahr 1869 schrieb er, er ziehe »die Gesellschaft von Eichhörnchen und Waldmurmeltieren« vor. Muirs Ehrfurcht vor dem, was er als natürliche Ordnung der Dinge betrachtete, beeinflusst noch heute den Naturschutz – sie reichte jedoch nicht so weit, auch Menschen – gleich welcher Hautfarbe – als Teil der Natur zu betrachten. »Die meisten Indianer, die ich gesehen habe,
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