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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
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Motorsäge erwartet. Aber diese netten Leute hatten schweres Gerät und meinten es offensichtlich ernst. Man hätte hier Fotos machen können, die den Albtraum eines jeden Naturschützers darstellen: ein Durcheinander aus Stämmen und Schlamm. Oder aber Fotos von dem fröhlichen, hart arbeitenden Team, den dazugehörigen Familien, und vom Wald, der, so die Hoffnung, durch ihre Abholzung geschützt wurde.
    »Der Skidder kommt!«, rief Gil. »Das sieht man nicht besonders oft! Kommt, kommt!«
    Wir rannten in den Wald. Ein Korridor aus platt gewalzter Waldvegetation führte in den Dschungel hinein. Hier war irgendetwas durchgekommen und hatte Bäume zerschrammt.
    Im Wald hörten wir das Quietschen und Brummen eines Motors. Und dann wälzte sich der Skidder heran. Er zog die gefällten Bäume aus dem schwer zugänglichen Wald hinter sich her. Das schmale, panzerähnliche Fahrzeug, ein flaches, schnittiges Urvieh mit platter Schnauze, kam auf uns zu.
    Gil hielt den iPod in die Höhe, um es aufzunehmen. »Wir sollten besser nicht zu nah dran sein, wenn er vorbeifährt«, sagte er respektvoll. Der Skidder, ein Kolonisationsroboter aus einer anderen Welt, stürzte überraschend schnell auf uns zu, rammte die seitlich stehenden Bäume, als er sich immer weiter auf uns zu und beinahe über uns schob.
    Und dann rannten wir um unser Leben, schrien vor Vergnügen und Entsetzen, als wir aus dem Weg sprangen. Mit malmenden Rädern fuhr er nur ein paar Meter von uns entfernt vorbei, dann war er verschwunden. In seinem Schlepptau glitt ein gewaltiger Baumstamm ruhig über den Waldboden.
    »Verdammter Mist! «, schrie Gil. Er wedelte mit dem iPod in der Luft. »Er hat nichts aufgenommen!« Doch seine Enttäuschung verwandelte sich in große bebende Freude. Als wir uns umwandten, war da wieder die Maschine, zurück von der Lichtung und auf dem Weg zu einem weiteren Stamm – unbeugsam, unmenschlich, unerbittlich.
    Auf dem Rückweg hielten wir am patio an, der Stelle in der Nähe des Highway, wo die Stämme bis zu ihrem Abtransport lagern. Zwanzig oder mehr lagen dort übereinandergestapelt, jeder hatte einen Durchmesser von etwa einem Meter. Wir fuhren über weichen, mit Regenwasser überfluteten Boden, an ein oder zwei Dutzend solcher Stapel vorbei. Fliegende Ameisen flatterten gegen die Baumberge. Der violette, nadelförmige Körper einer Libelle erschien und verschwand wieder. Die Luft roch nach Holz und Moder.
    Gil schüttelte den Kopf. »Kaum zu glauben, dass das den Wald nicht zerstören soll, oder?«
    *
    Wir trafen Gil zum Frühstück in unserem Hotel. Als wir bei Kaffee und Gebäck unseren Tag planten, kam ein muskulöser Amerikaner mittleren Alters an unseren Tisch und redete mit Gil übers Surfen. Der Mann trug Flip-Flops und kurze Hosen, er hatte langes, grau-blond gelocktes Haar und eine tiefe, raue Stimme. Ein Surferkumpel von Gil, dachte ich. Die Subkultur der Chiller vom Amazonasstrand – von der ich bis vor zwei Tagen noch nichts gewusst hatte –, wuchs täglich.
    Dann wandte er sich mit seiner Visitenkarte zu mir. Es war Rick. Der Mann aus Michigan, der seinen eigenen Regenwald besaß. Er hatte kurzerhand beschlossen, uns in Brasilien zu treffen. Er sagte, es gebe eine Menge Missverständnisse über das Amazonasbecken und den Holzeinschlag. Offenbar hielt er meine Anwesenheit in Santarém für eine einmalige Gelegenheit, seine Geschichte zu erzählen.
    Ich weiß nicht, wie ich mir Rick vorgestellt hatte – als käsigen Typen in Poloshirt und Khakis? – so jedenfalls nicht. Mit seinem kantigen Gesicht und den gewaltigen Armen sah er aus wie ein muskelbepackter Gary Sinise. Oder jemand, der Gary Sinise windelweich prügeln könnte. Er wurde begleitet von einem seiner wenigen verbliebenen brasilianischen Angestellten, einem intelligenten, zurückhaltenden jungen Mann, den er Tang nannte. Sie bestellten sich ebenfalls Kaffee und Frühstück und setzten sich zu uns.
    Rick lebte für Holz. Seine Firma importierte es in die Vereinigten Staaten, verarbeitete und verkaufte es als exotischen Fußbodenbelag. Das Geschäft habe durch das billige Geld der Immobilienblase floriert. »Die Leute bauten Neunhundert-Quadratmeter-Häuser, weil sie es konnten, und ließen exotische Hartholzböden verlegen, auch bloß weil sie es konnten.«
    Er machte sich daran, falsche Vorstellungen zu korrigieren: »Im amerikanischen Fernsehen zeigen sie immer verbranntes, totes Ödland, über das sie einen Holztruck fahren lassen«, sagte er.

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