Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Blackwell
Vom Netzwerk:
Inneren. Auf Zehenspitzen lugte ich durch ein Seitenfenster und suchte das sanftmütige Gesicht von dem Foto auf seiner Website.
    Doch stattdessen erblickten wir einen halbnackten Wilden in Surferhosen, der über einen alten Computer gebeugt saß. Ich klopfte. Keine Reaktion. Der Mann starrte angespannt auf den Bildschirm, bleckte die Zähne und haute in die Tasten. Ich klopfte wieder, diesmal lauter, und er schreckte hoch, sodass ihm ein paar Haarsträhnen auf die Schultern fielen. Nun hatte er uns entdeckt. Ich verspürte den Drang wegzulaufen, aber er war bereits aufgesprungen, steuerte auf uns zu und brüllte etwas über die Musik hinweg. Er bot uns Caipirinhas an – Wisst ihr, was das ist? Unser Nationalgetränk! Habt ihr das in New York auch? Wirklich?! –, hieß uns in Santarém willkommen und tat seine Begeisterung kund, dass wir gekommen waren.
    Wie soll man Gil Serique beschreiben? Er war ein Sohn des Regenwalds, geboren in einem kleinen Dschungeldorf am Ufer des Tapajós, einem Ort, wo es weder Elektrizität noch fließend Wasser gab und der nur mit dem Boot erreichbar war. Ein »Paradies!«, wie er sagte. Heute war Gil ein mehrsprachiger Guide und Übersetzer, auch für Journalisten, und vor allem ein proto typischer Amazonas-Strandchiller. Wenn er konnte, surfte er jeden Tag. Er musste nur einmal die Straße überqueren und konnte ins Wasser steigen.
    Und er war umtriebig. Er hatte Broschüren für sein Guide-Geschäft drucken lassen, pflegte Kontakte zu den Kreuzfahrtunternehmen, auf deren Route Santarém lag, updatete wie besessen seinen Blog und seinen Facebookstatus (der letzte Stand waren 2857 Freunde). Sein Haus war ein Treffpunkt für alle, die sich für den Regenwald und für seine Zerstörung, fürs Surfen, Trinken oder Reden interessierten. Er startete sofort mit einer Reihe absurder und übertriebener Geschichten – zum Beispiel über seinen Freund, den Neurochirurgen und Piloten, der von den amerikanischen Konföderierten abstammte, über seinen eigenen Auftritt in einem Michael-Jackson-Video und darüber, wie er zu seiner Schande einmal beinahe zum Schmuggler exotischer Tiere geworden wäre.
    Der iPod touch war Teil seiner Maßnahmen, sein Einkommen aufzubessern. Er erzählte, dass die Geräte in Santarém Mangelware waren, und akzeptierte ihn als Teilzahlung für seine Dienste als Guide. Er hatte vor, ihn mit einem Aufschlag von hundert Prozent zu verkaufen. »Ich sollte mich nur noch in iPod touchs bezahlen lassen«, sagte er. Und dann sprach er noch ein bisschen übers Surfen. Immer wieder Surfen. Er weidete sich am Leben wie ein durchgeknalltes Raubtier. Wenn etwas lustig war, angenehm oder hübsch, quittierte er das nicht nur mit einem Lachen, nein, er riss die Augen auf, fletschte die Zähne und stieß einen markerschütternden Schrei aus. » AAAGGHH! « Er war regelrecht besessen von Freude.
    Mit einem Bier in der Hand lehnten wir an den Terrassen wänden und beobachteten, wie die braven Bürger von Santarém am Ufer entlangschlenderten. Gil war der glücklichste Mann der Welt, erzählte er uns atemlos. Er wüsste nicht, wie er glücklicher sein könnte. Er liebte Santarém, den Wald, seine Freundin, seinen Job und uns. Mit 46 Jahren sollte er bald Vater wer den. Das baufällige Vierzimmerhaus teilte er sich mit seiner schwangeren »zukünftigen Braut«. Sie war 17 – nur gut ein Drittel so alt wie er.
    »Ich habe das beste Leben hier, wirklich«, sagte er und wirkte gleich darauf überwältigt von dem, was er gerade gesagt hatte. Seine Augen wurden groß. »Ich liebe diese Stadt! Ich liebe sie wirklich! AAAGGHH! «
    Das Gespräch kam auf Abholzung und Soja. Es war verwirrend, wie es Gil, mit einem irren Glanz in den Augen, gelang, gleichzeitig zu schreien, zu trinken und eine vernünftige Unterhaltung zu führen. Er redete über das Cargill-Terminal und über die Rodungsmuster in der Region.
    »Die Straßen in Amazonas sind alle in den Siebzigern gebaut worden«, sagte er in einer näselnden Mischung aus brasilianischem, britischem und Surfer-Slang. »Vorher belasteten die menschlichen Aktivitäten hauptsächlich den Fluss. Durch die Straßen hat sich der Druck ins Inland verlagert.«
    Der Amazonas ist eine natürliche Grenze und steht immer unter dem Einfluss eines neuen Booms, wie des Gold-, Kaut schuk- und Nutzholzrausches allein in den letzten hundert Jah ren. Momentan stehen Soja und Bauxit an erster Stelle. Doch es gab nicht nur diese Form der Ausbeutung. So etwas

Weitere Kostenlose Bücher