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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Publikum auf den Beinen, jubelte und pfiff mit vor Begeisterung verzückten Gesichtern; Krankheiten, Schmerzen, Zuckungen und Anfälle schienen vergessen. Donnernder Applaus. Dr. Kellogg verbeugte sich tief, und als Lillian die zweite Banane gierig in den weitgeöffneten Schlund steckte und seine Patienten mächtig jubelten, schritt er winkend zur Tür hinaus auf den Korridor, getragen vom Hochgefühl des Augenblicks.
     
    Draußen, zwischen den Topfpalmen, stand sein Sekretär Poultney Dab, ins sanfte Licht der elektrischen Lampen getaucht. Dab hatte geduldig gewartet, eine Hand umklammerte unbeholfen ein Bündel Papiere, die andere eine Aktenmappe.
    »Hören Sie sie, Poult? Heute abend haben wir sie ein paar Dinge gelehrt, die sie so schnell nicht wieder vergessen werden, he?« Der Doktor eilte bereits mit seinen kurzen, flinken Schritten den Korridor entlang, spuckte die Worte über die Schulter in Dabs großes, beflissenes Gesicht. »Sorgen Sie dafür, daß Lillian heute noch eine Extraration bekommt und daß der neue Mann, wie heißt er doch gleich, Murphy?, ihren Käfig saubermacht – er war diesbezüglich etwas nachlässig –, und ich brauche eine zweite Abschrift des Berichts der Treuhänder, wie ich Ihnen, glaube ich, bereits sagte, und, ach ja, jemand im fünften Stock hat sich über Küchengerüche beschwert – Mrs. Crouder, Zimmer 519, glaube ich –, sehen Sie zu, daß Sturman sich drum kümmert, und seien Sie Punkt elf Uhr zum Diktat in meinem Büro, ja?«
    Dab war ein kleiner, korpulenter Mann, der unglücklicherweise watschelte; je schneller er hinter seinem Boss herlief, um so auffälliger watschelte er. »Dr. Kellogg«, sagte er. Seine Stimme klang rauh und atemlos, und es haftete ihr eine gewisse unangenehme Dringlichkeit an, »Dr. Kellogg –«
    Der Doktor blieb mitten in dem breiten, hell erleuchteten Korridor stehen, der sich einhundertundsiebzig Meter lang vom Großen Empfangssaal bis zur Eingangshalle zog und mit fleckenlosem italienischem Marmor ausgelegt war, von ihm selbst ausgesucht, und drehte sich um zu seinem Sekretär. Über Dabs Schulter sah er, wie die Leute aus dem Großen Empfangssaal herauskamen, eine Parade der Berühmten, der Erfolgsmenschen und der Reichen. Eine Gruppe Krankenschwestern ging vorüber, alles hübsche Mädchen, die scheu lächelten. »Guten Abend, Doktor«, murmelten sie. »Guten Abend, Mädchen«, erwiderte er würdevoll. »Also, Poult, was in Gottes Namen ist los, daß Sie sich so aufregen?«
    Aber der Doktor mußte nicht auf die Antwort seines Sekretärs warten – da war er, lässig und krumm gegen die Wand gelehnt, keine vier Meter von ihm entfernt, da war er und starrte ihm ins Gesicht. Auf der Stelle zerbrach seine gute Laune wie eine Fensterscheibe. Er spürte, wie ihn die Wut übermannte. »Wie kannst du es wagen!« preßte er heraus und stürmte auf die zerlumpte Gestalt zu, die an der Wand lehnte. »Hab’ ich dir nicht gesagt–?«
    Aber die Gestalt bewegte sich und sprach und unterbrach ihn. Die Worte schienen tief aus ihrem Inneren zu kommen, auch dann noch, als das glanzvolle Publikum durch die Türen des Großen Empfangssaals herausströmte und sich ihnen als Knäuel näherte; die Worte wurden ausgespuckt wie ein Fluch, die Lippen verzerrt im unrasierten Gesicht, herausgezwungen aus stinkenden Lumpen und fiebrigen Augen: »Hallo, Vater. Willst du mich nicht vorstellen?«

2.
MÜLLSCHLUCKER DES MEERES
    Ohne die kleine, zierliche, dreizackige Gabel zur Kenntnis zu nehmen, hob Charlie Ossining die Auster an den Mund, brachte die Schale in Schräglage und verleibte sich das Weichtier mit einem raschen, geübten Schürzen der Lippen ein. Vor ihm, auf einem Bett aus zerstoßenem Eis, lagen elf weitere Austern, schimmernd im Saft des Lebens. Er nahm sich die zweite vor, würzte sie mit einem Spritzer Cocktailsoße und Zitronensaft, bevor er sie zu ihrer Schwester ins Bett schickte; der Augenblick steigerte sich durch ein warmes gastrisches Glühen, als er genüßlich an seinem Pommery & Greno, Jahrgang 96,nippte und den ansprechenden grünen Flaschenhals betrachtete, der aus der eisigen Krippe herausragte. So macht das Leben Spaß, dachte er und tupfte sich die Lippen mit einem Tuch aus schneeweißem Leinen ab, dann ließ er den Blick müßig in die funkelnde Tiefe des Waggons schweifen.
    Die Landschaft, die draußen an den Fenstern vorbeizog, war so kalt und freudlos wie die Speiseröhre einer Auster – hatten Austern Speiseröhren? fragte er

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