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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Tindermarsh. Natürlich. Er konnte eine kurze Aufwallung selbstgefälligen Stolzes nicht unterdrücken – fast eintausend Patienten, und er konnte sich jeden einzelnen ins Gedächtnis rufen, als läge sein Krankenblatt offen vor ihm … Aber genug davon – das Publikum wurde unruhig, eine monolithische Kraft, eine einzige große nackte Psyche, die auf die Hand wartete, die sie kleiden würde. Dr. Kellogg räusperte sich.
    »Meine liebe Mrs. Tindermarsh, ich möchte Ihnen ausdrücklich für Ihre Frage danken«, begann er, kaum in der Lage, seine zierlichen Füße am Herumtänzeln zu hindern, selbst dann noch, als ihm die hieb- und stichfeste Entgegnung über die Lippen kam, »aber ich frage mich, wie viele dieser übermäßig Fleisch essenden Pioniere älter als vierzig wurden.« (Gemurmel im Publikum, als die kollektive Vision eines Mannes im Waschbärenfell mit bloßgelegtem Knochengerüst, der an gepökeltem Schweinefleisch und. Pfannkuchen zugrunde gegangen war, vor aller Augen aufstieg.) »Und wie viele von ihnen, Ihre eigenen verehrten Vorfahren nicht ausgenommen, gingen am Abend ins Bett und fanden auch nur eine Minute Schlaf, die nicht unter dem Unstern von Dyspepsie und Alpträumen fleischlichen Verfalls stand?« Er hielt inne, um diesen schrecklichen Gedanken wirken zu lassen. »Ich sage Ihnen, Mrs. Tindermarsh, und allen Damen und Herren im Publikum, und ich sage es aus tiefster Überzeugung« – Pause, zwei Herzschläge lang –, »ein Steak wirkt ebenso tödlich wie eine Revolverkugel. Schlimmer noch. Wenn sich jemand den Revolver an die Stirn setzt Und abdrückt, kommt das Ende gnädigerweise schnell, aber ein Steak – ah, die subtilen und immerwährenden Agonien des Fleischessers! Sein Dickdarm ist verstopft mit verwesender Last, sein ganzes Blut strömt in den Eingeweiden zusammen, in seinem anfälligen Herzen nistet die Wut des Karnivoren – ein Steak tötet Tag für Tag, Minute für Minute, indem es aus dem ganzen Leben ein Martyrium macht.«
    Jetzt hatte er sie in der Hand – er konnte es an der Angst und dem Widerwillen in ihren Augen ablesen, den grimmig zusammengebissenen Zähnen, als sie stumm die Steaks und Würste, die Koteletts und Hühnchen und Gänse zusammenzählten, die sie im Lauf der gierigen, ahnungslosen Jahre verschlungen hatten. »Aber glauben Sie mir nicht einfach blind«, sagte er und breitete die Arme aus, »wir wollen wissenschaftlich vorgehen. Schließlich ist unser Sanatorium der wahren biologischen Lebensweise und der wissenschaftlichen Analyse geweiht, es ist die Hochschule der Gesundheit. Wir wollen hier ein kleines Experiment durchführen – hier in diesem Raum, einer Eingebung des Augenblicks folgend.« Er trat aus dem Licht des Scheinwerfers und rief plötzlich mit Stentorstimme. »Frank? Dr. Frank Linniman?«
    Unruhe am anderen Ende des Auditoriums, Bewegung, dreihundert Hälse drehten sich um, und mit einemmal schritt der herbeigerufene Assistent flott den Gang entlang, das Kinn gereckt, die Haltung tadellos. Das Publikum erkannte auf den ersten Blick, daß es sich hier um einen Mann handelte, der sich unerschrocken von einer Klippe hinunterstürzen würde, sollte sein Boss es von ihm verlangen. Vor dem Podium blieb er stehen und sah hinauf in das blendende Licht. »Ja, Doktor?«
    »Kennen Sie die Post Tavern? Das beste Wirtshaus in Battle Creek – oder, wenn wir schon dabei sind, das beste in unserem schönen Staate Michigan?« Das war Routine, ein bißchen Schauspielerei, das der Doktor schon dutzendmal durchexerziert hatte, aber noch immer erhob sich Charlie Posts Bild – unverbindlich gutaussehend, unbeschwert groß-, ein Judas von einem Mann – vor ihm wie die Klinge eines Meuchelmörders und verdarb ihm ein ganz klein wenig seinen Auftritt.
    »Ich kenne es, Doktor.«
    Dr. Kellogg selbst war ein kleiner Mann. Das lag nicht so sehr daran, daß er einfach klein gewachsen war, es lag vielmehr daran – so beliebte er es auszudrücken –, daß seine Beine nicht lang genug waren. Saß er auf einem Stuhl, war er so groß wie jeder andere auch. Natürlich, als er die Fünfzig überschritten hatte, war er im horizontalen Bereich etwas in die Breite gegangen, aber das war durchaus in Ordnung – es verlieh ihm eine Aura stattlicher Gesundheit und Autorität, und er vergrößerte den Effekt noch, indem er sich ganz in Weiß kleidete. An diesem Abend war er, wie immer, ein wahres weißes Wunder, ein Weihnachtsmann der Gesundheit, von den makellosen weißen

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