Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
Vom Netzwerk:
Luftschnappen, Kichern, und dort, in der fünften Reihe, saß Miss Muntz, die sich auf entzückende Weise verfärbte.
    »Nur keine Schüchternheit vorschützen, Miss Muntz, das alles dient ausschließlich der Wissenschaft.«
    Aufmunterndes Gemurmel, und im nächsten Augenblick raffte Miss Muntz ihren Rock, bahnte sich einen Weg den Gang entlang und stieg voller Anmut die drei Stufen zum Podium hinauf.
    »Nun, Miss Muntz«, setzte der Doktor an und vergaß momentan seinen Gedankengang, als er bemerkte, wie hoch sie vor ihm aufragte – sie war hübsch, ja, sie bot zweifellos einen appetitlichen Anblick, Bleichsucht hin oder her, aber er hätte um Himmels willen daran denken sollen, jemanden mit etwas weniger Bein auszuwählen. Er verlor einen Augenblick lang den Faden, was höchst untypisch für ihn war, und wiederholte sich: »Miss Muntz. Miss Muntz, ich möchte Sie bitten, die zwei Scheiben unter den Mikroskopen in Augenschein zu nehmen und uns zu beschreiben, was Sie sehen, und dabei ständig im Kopf zu behalten, daß nur Dr. Linniman weiß, bei welcher der beiden Proben es sich um Mrs. Tindermarshs Rindersteak handelt und bei welcher um das, nun« – Gelächter im Publikum –, »das Abfallprodukt eines Tieres, das dem sehr ähnlich ist, das um des perversen Geschmacks der Schlemmer in der Post Tavern willen geopfert wurde.«
    Der Augenblick war unübertrefflich, das Mädchen beugte sich graziös über das Mikroskop, die Männer rutschten auf den Stühlen nach vorn, um besser sehen zu können, die Frauen lächelten verstohlen, der Doktor war sich wie immer seiner Autorität bewußt, seines Wohlwollens, seiner Weisheit – er war der Hirte seiner Herde. »Und würden Sie uns beschreiben, was Sie in der ersten Kostprobe erkennen können, meine Liebe?«
    »Hm, sie ist schwarz – oder nein, jetzt sehe ich …«
    »Ja?«
    »Winzige Dinger. Die sich bewegen. Wie … wie Strohstückchen oder Reiskörner – nur daß sie lebendig sind.«
    »Gut, sehr gut, Miss Muntz. Das sind Bakterien« – der Doktor wandte sich dem Publikum zu –, »und sie sind an den Enden stumpf wie Reiskörner, wie Sie sagen, weil es hinterhältige Bakterien sind, B. welchii, B. coli und Proteus vulgaris, die wir so oft im Stuhl neu hier im Sanatorium eingetroffener Patienten finden. Und könnten Sie die Bakterien für uns zählen, Miss Muntz?«
    Sie wandte jetzt den Kopf, sah ihn aus hellen, kristallklaren Augen an und stieß einen leisen, erstaunten Schrei aus. »O nein, Doktor – es sind viele Hunderte und Aberhunderte.«
    »Und würden Sie uns jetzt den großen Gefallen tun, Miss Muntz, und sich die Probe unter dem zweiten Mikroskop ansehen?«
    Rockrascheln, ein schneller, prüfender Griff zu Frisur und Hut, und Miss Muntz beugte sich über das zweite Mikroskop.
    »Würden Sie uns beschreiben, was Sie sehen, Miss Muntz?«
    »Ja, Doktor, es sieht … es sieht ziemlich gleich aus –«
    Das Publikum atmete aus, ein Kräuseln, das zu einer Flutwelle anschwoll.
    »Und könnten Sie die Bakterien in dieser Probe zählen?«
    »O nein, Doktor –«
    »Aber können Sie sagen, ob es weniger oder mehr sind als beim ersten Beispiel?«
    Das Auge noch immer auf die Öffnung der Linse gedrückt, spielte Miss Muntz, ohne es zu merken, mit einer losen Haarsträhne und senkte nachdenklich die Stimme. »Hier sind es … sind es mehr. Viel mehr.«
    »Würden Sie sagen, daß es um die Hälfte mehr sind als in der anderen Probe?«
    »O ja«, hauchte Miss Muntz, nahm das Auge von der Linse und richtete sich auf, um den Doktor und die Menge, die reihenweise gaffend hinter ihm saß, anzusehen. »Ja, mindestens, Doktor – um mindestens die Hälfte mehr …«
    »Sehr gut. Dr. Linniman, würden Sie jetzt dem Publikum die Identität der beiden Proben enthüllen?«
    Franks Miene war vollkommen gefaßt – wunderbar, wunderbar, dachte der Doktor, eine Welle des Triumphs überschwemmte ihn. Wie sehr er dieses Leben doch liebte! »Die erste Scheibe –«
    »Ja?«
    »– stammte von der Probe aus dem Mietstall.«
    Daraufhin explodierte das Publikum. Gejohle, Gelächter, Rufe der Überraschung und Verwunderung und schließlich ein nicht enden wollender Applaus, der im Großen Empfangssaal widerhallte. Es klang wie der ständige Wellenschlag des Meeres gegen einen Kiesstrand, und es dauerte eine Weile, bis der Doktor die Menge strahlend und mit hocherhobenen Händen beruhigen konnte. »Ich bitte jeden einzelnen von Ihnen«, übertönte er das ersterbende Gejohle, »hier

Weitere Kostenlose Bücher