Willkür
Leanne unvermittelt ein schmuddeliges Kind heftig am Ohr zog. Es hatte die ganze Zeit gequengelt, weil es einen Keks wollte, und jetzt brüllte es aus Leibeskräften. Unter dem Tisch hatten zwei weitere Kinder Quartier bezogen, die sofort in das Geschrei einstimmten. Dann fiel Leannes Blick auf Wyatt und ihre Kinnlade klappte herunter.
Nun sahen ihn auch die Männer. Niall wollte gerade einen Schluck aus seiner Bierdose nehmen. Doch er stellte sie zurück zu den anderen, die zwischen Schalen voller Kartoffelchips, Erdnüsse und Kekse auf dem Küchentisch standen. Frühstück bei Rossiters.
»Wer sind Sie denn?«, rief Niall.
Ohne ihn zu beachten, begrüßte Wyatt den anderen Mann mit einem Kopfnicken und einem knappen »Ross«.
Zwar war Rossiter nur zehn Jahre älter als seine Frau, man hätte ihn aber auf siebzig schätzen können. Er sah aus wie ein stark gealterter Jockey; das schmale Gesicht mit den unregelmäßigen Zügen und die schlechte Haltung hatte er an seinen Sohn weitergegeben, dessen brutale Bösartigkeit gehörte jedoch nicht zur Erbmasse. Offenbar hatte Rossiter sich beim Rasieren geschnitten. Er schien sich nicht sicher zu sein, ob Wyatt ihm in seiner Küche willkommen war oder nicht. Vorsichtig blieb er auf Distanz. »Ah, Wyatt«, sagte er.
Die Reaktion ließ nicht auf sich warten. Niall sprang sofort von seinem Stuhl auf und Eileens Gesichtsausdruck wechselte von neutral zu steinern. »Sieh mal einer an«, sagte sie leise. Leanne blickte verwirrt in die Runde. Wyatt behielt alle vier im Blick. Rossiter umklammerte die Tischkante mit beiden Händen. Er war weder knallhart noch fies oder unberechenbar, doch das hieß nicht, dass er ein sicherer Kandidat war. Knallhart hingegen war Eileen, fies und unberechenbar Niall und Leanne war einfach gar nichts.
Es gab nur eine Möglichkeit, zu diesen Leuten vorzudringen. Wyatt hob beschwichtigend die Hände und sagte: »Beruhigt euch«, dann zog er einen Umschlag mit mehreren tausend Dollar aus der Jackentasche, die er in den letzten zehn Monaten durch kleinere Überfälle hatte erbeuten können. Er nahm tausend Dollar heraus. Erwartung gepaart mit Ungeduld lag plötzlich in der Luft. Wyatt legte das Geld auf den Tisch. »Ich möchte mich bei dir entschuldigen, Ross«, sagte er.
Niall sah erst auf das Geld, dann zu Wyatt. »Wie bitte? Entschuldigen? Da kommt so ’n Typ daher, drischt auf meinen Alten ein, deinetwegen, und du willst dich jetzt entschuldigen? Ich werd dir gleich von wegen Entschuldigung!« Drohend kam er um den Tisch herum.
Rossiter stellte sich ihm in den Weg. »Halt die Luft an, Junge. Ich leb ja noch. Lass ihn doch erst mal ausreden.«
Nialls Gesicht wurde spitz vor Wut. Er wollte sich nicht beruhigen, also zog Wyatt zur Sicherheit seine .38er hervor. Als Niall sie sah, trat er den Rückzug an, sagte »Hey« in einem Ton, als hätte man ihn zutiefst beleidigt, und setzte sich wieder.
Auch die anderen hatten die Pistole in Wyatts Hand gesehen. Eileen beobachtete ihn unablässig, Leanne ohrfeigte eines ihrer Kinder ohne ersichtlichen Grund und starrte dann wieder fasziniert auf die Waffe. Rossiter schüttelte nur matt den Kopf. »Hört schon auf. Er ist ein Freund.« Er sah Wyatt ins Gesicht. »Steck das Ding weg, Junge, das brauchst du hier nicht.« Nachdem eine gewisse Entkrampfung eingetreten war, sagte Rossiter: »Hab gehört, du hast ihn erschossen.«
Wyatt nickte.
Etwas wie Anerkennung regte sich in Leannes einfältigem Gesicht. »Du hast Sugarfoot erschossen?«
Wyatt spürte, wie er langsam ungeduldig wurde. Das hier war reine Zeitverschwendung. »Kann ich reinkommen, Ross?« Die Worte kamen ihm nur schwer über die Lippen.
Eileen erhob sich. Die Sinnlichkeit in ihren Bewegungen verriet, dass sie um die erotische Ausstrahlung ihres Körpers wusste und sie auch genoss. »Ich würd sagen, du bist schon drin.« Dabei blickte sie Wyatt unverwandt in die Augen.
Es war, als würde die Luft zwischen ihnen anfangen zu vibrieren und das blieb den anderen nicht verborgen. Niall zerrupfte einen Zigarettenstummel. Leanne wurde rot, griff nach den Chips und stopfte sich eine Hand voll in den Mund. Rossiter lächelte ausdruckslos und fragte: »Was kann ich für dich tun, Wyatt?«
»Können wir unter vier Augen miteinander reden?«
»Komm mit«, sagte Rossiter und verließ die Küche. Wyatt folgte ihm.
Das Wohnzimmer war mit einem aprikosenfarbenen Teppichboden aus Synthetik ausgelegt, das Mobiliar bestand aus einer aufwändig
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