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Willkür

Willkür

Titel: Willkür Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Disher
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Hand. »Ich möchte mein Geld holen.«
    Offenbar hatte sich Rossiters Sohn die Zeit mit Rauchen und Trinken vertrieben. Die Augen zusammengekniffen, um sie vor dem Rauch der Zigarette in seinem Mundwinkel zu schützen, eine Bierdose lässig in der Hand, so stand er nun vor Wyatt. Als er ihn erkannte, fiel ihm die Zigarette aus dem Mund. Als er den Zustand seines Hund erkannte und die letzten Spasmen mitbekam, fiel ihm auch die Bierdose aus der Hand.
    Wyatt hatte damit gerechnet, dass Niall sich um den Hund kümmern würde, um so erstaunter war er, als der Junge mit einem Satz zurück in seiner Wohnung war und die Tür hinter sich zuschmiss.
    Wyatt hämmerte dagegen, rüttelte an der Klinke, rammte die Tür einige Male mit der Schulter und rief: »Ich will mein Geld, Niall!«
    Er sah, wie der Pfeil durch das Fenster auf ihn zugeschossen kam. Doch das Glas verminderte die Durchschlagskraft und veränderte die Flugbahn; er touchierte lediglich Wyatts Oberschenkel und fiel wirkungslos zu Boden. Wyatt ging in die Hocke und bewegte sich weg vom Licht.
    Wieder splitterte Glas, doch diesmal war es nicht das Fenster auf seiner Seite, sondern das Fenster, das auf die Gasse hinausging. Man hörte ein Stück Stoff zerreißen, danach schnelle Schritte, die sich vom Haus entfernten. Wyatt schwang sich auf das Dach der Hundehütte und von dort über den Zaun. Er verharrte noch kurz in der Hocke, bis er Nialls Silhouette deutlich im Licht der Laternen am Ende der Straße sah. Sofort nahm er die Verfolgung auf. Der Junge flüchtete in Richtung Fluss. An einem bestimmten Punkt — Niall lief an der Seitenmauer der Brauerei vorbei — sah Wyatt den hastigen Schatten des Jungen auf der Backsteinmauer wachsen und gleich wieder schrumpfen. Niall hatte einen Rucksack auf dem Rücken. Wyatt folgte ihm in einem Abstand von ungefähr zweihundert Metern und hoffte, dass die Kräfte des Jungen nachlassen würden.
    Doch Niall war zwanzig Jahre jünger als Wyatt und er war in Panik. Er schlug diverse Male Haken, näherte sich immer mehr dem Fluss und dem alten Frauenkloster am westlichen Ufer. Auf dem Kinderbauernhof dahinter verlor Wyatt ihn aus den Augen.
    Der Ort war sowohl eine gute als auch eine schlechte Wahl. Nialls zuhause war die Straße, dorthin hätte er flüchten sollen, ein Taxi anhalten oder einem x-beliebigen Autofahrer an der nächstbesten Ampel die Armbrust unter die Nase halten. Mit dem dichten Gehölz, den Graslandschaften und Tiergehegen am Ufer wusste einer wie Niall nichts anzufangen. Andererseits konnte er sich dort hervorragend verstecken, vorausgesetzt seine Geduld und seine Nerven ließen ihn nicht im Stich. Der Verkehrslärm auf der Studley Park Bridge, die Dunkelheit und das unbekannte Gelände boten ihm genügend Schutz. Dasselbe galt für Wyatt. Jedoch nur für diesen Zweck, ansonsten war das Gelände eine Zumutung.
    Er hätte Niall auch erst bei Tagesanbruch aufstöbern können — wenn er genügend Zeit gehabt hätte. So aber startete er seine Suche in der Nähe des Eingangs zum Kinderbauernhof, durchforstete systematisch das Terrain und konzentrierte sich dabei auf das Zentrum; würde er den Rändern zu lange Aufmerksamkeit schenken, bestünde die Gefahr, dass Niall ihm entwischte. Ab und zu blieb er stehen und lauschte. Da war der Verkehr auf der Brücke in Richtung Kew, der Wind, der sich in den Wipfeln der Bäume verfing und da war etwas im Hintergrund — leise, konstant, vermutlich der Fluss auf seinem Weg durch die Täler. Einige Schafe ruhten im Gras, als Wyatt sich ihnen näherte, vernahm er ein Husten, das beinahe menschlich klang.
    Dann ein Quieken in höchster Not. Wieder nicht menschlich und dennoch schriller Ausdruck des Entsetzens. Er stieß auf den Schweinekoben. Sämtliche Ferkel quiekten und das Muttertier, einen Pfeil in der Hüfte, bewegte sich vor und zurück, getrieben von dem Instinkt, ihre Ferkel zu beschützen und gleichzeitig Niall zu bedrohen. Der saß im Schlamm und versuchte verzweifelt, seine Armbrust zu laden. Der Mond schien, so konnte Wyatt diese Szene genauestens verfolgen. »Es ist vorbei, Niall. Lass die Armbrust fallen und steig über den Zaun«, rief er ihm zu.
    In einer einzigen Bewegung drehte Niall seinen Oberkörper in die Richtung, aus der die Stimme kam, und schoss einen Pfeil ab. Wyatt hörte das phutt! dicht an seinem Kopf und feuerte dreimal. Es waren gezielte Schüsse. Die Geschosse streiften die Latte hinter Niall und landeten knapp neben seinem Schritt im Schlamm.

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