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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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Glaubwürdigkeit auf sein Bundestagsmandat verzichtet. Um die unter verstärktem Bevölkerungsschwund leidende, gefährlich isolierte und vor allem als industrieller Standort sieche Metropole vor der großen Depression zu bewahren, überredet er die Bonner Regierenden zu einer gewaltigen Subventionsoffensive. Als besonders attraktiv erweist sich dabei ein achtprozentiger, steuerfreier und vom Volksmund spöttisch «Zitterprämie» genannter Gehaltszuschlag aus der Staatskasse.

    Im Bundestagswahlkampf 1961 zeigt sich Kanzlerkandidat Willy Brandt häufig in offener Limousine; die von seinen Beratern inszenierten Auftritte lassen ihn zuweilen wie ferngesteuert wirken.
    Darüber hinaus setzt Willy Brandt darauf, die Halbstadt zur Kulturhochburg umzugestalten – und den verbreitet düsteren Prognosen zum Trotz scheint das seinen Worten zufolge «von finsteren Mächten verdunkelte Schaufenster der freien Welt» auch tatsächlich bald wieder zu leuchten. Doch wie sehr er sich da täuscht, zeigt sich im Sommer 1962. Auslöser einer mehrere Wochen lang rumorenden Vertrauenskrise, in der der Schutzmacht USA unverhohlene Feindseligkeit («Ami go home») entgegenschlägt und Jugendliche «Vopos» mit Steinwürfen angreifen, ist der qualvolle Tod eines achtzehnjährigen Maurergesellen namens Peter Fechter.
    Der wird als Flüchtling von Grenzern der DDR angeschossen und verblutet in unmittelbarer Nähe des Checkpoints Charlie, weil ihm die diensthabenden Soldaten im Osten jede Unterstützung versagen, während auf westlicher Seite die amerikanischen Posten und Berliner Polizisten dem Drama hilflos zusehen. Die von zahlreichen Augenzeugen verfolgte Tragödie führt zu Demonstrationen, bei denen erstmals sogar der rührige Bürgermeister am Pranger steht.
    Zugleich sind dies Momente, so beschreibt es Egon Bahr später, in denen der Öffentlichkeit «die Kluft zwischen Wirklichkeit und Propaganda» bewusst wird. Selbst den hartnäckigsten Realitätsverweigerern geht nun auf, dass der gebetsmühlenartig wiederholte Slogan «Die Mauer muss weg» ebenso nur eine reine Worthülse ist wie der im Sprachschatz der Politik überdauernde Viermächtestatus Berlins. Die Verantwortlichen der Stadt erkennen in jener Zeit, bestätigt der Altkanzler Brandt rückblickend, dass sie sich mit ihren Hoffnungen, die Entwicklung im Osten irgendwie beeinflussen zu können, schon allzu lange «an etwas klammerten, das in Wahrheit nicht mehr existierte», und dieser Einsicht Rechnung zu tragen, wirft ihn fast aus der Bahn.
    Seiner Neigung entsprechend, in Phasen bedrückender Umstände Selbstfindung durch Abschottung zu betreiben, gerät er zusehends auch persönlich in eine Krise. Mehr als einmal schließt er sich unvermittelt in seinem Dienstzimmer ein oder weist die Sekretärin strikt an, niemanden vorzulassen – und er trinkt zu viel. Dass sie ihren Chef nach dem Fall Fechter häufig ziemlich «indisponiert» angetroffen hätten, bestreiten danach sogar engste Mitarbeiter nicht.
    Aber im Herbst steht der bereits zu Beginn seiner Amtstätigkeit von Intimfeinden als «Willy Weinbrand» verhöhnte Parteifreund wieder stabiler seinen Mann. In einer der gefährlichsten Situationen seit Kriegsende, in der sich die Welt nicht allein um den deutschen Konfliktherd sorgt, sondern mit noch größerer Angst auf den atomaren Raketen-Showdown von Kuba starrt, beginnt der strategisch ambitionierte Frontstadt-Bürgermeister seine Berlin-Position gründlich zu überprüfen. Ihm leuchtet ein, dass es auf Dauer unproduktiv ist, die in schwere geopolitische Auseinandersetzungen verstrickte westliche Vormacht immer nur mit den eigenen, in absehbarer Zeit offenkundig unerfüllbaren Wunschträumen zu überfrachten, und sucht von da an nach Alternativen.
    Schließlich hat ihn dazu kein Geringerer ermutigt als der US-Präsident selber. Statt sich immer bloß hinter den Siegermächten zu verschanzen, bedeutet ihm John F. Kennedy auf dem Höhepunkt der Kubakrise anlässlich eines langen Gesprächs Anfang Oktober in New York, die Bundesrepublik sei gut beraten, wenn sie ihr Schicksal auch in die eigenen Hände nähme – eine nachdrückliche Aufforderung, nicht ständig an seinem Rockzipfel zu hängen.
    Die Ermunterung von höchster Stelle, darüber nachzudenken, wie sich das Verhältnis zu den Landsleuten im Osten entkrampfen könnte, kommt dem Berliner Stadtregenten gerade recht. Mit Mauer und Stacheldraht bis auf weiteres leben zu müssen, haben er und seine Kombattanten

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