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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Joachim Noack
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lässt sich mit hinreichender Gewissheit nie verifizieren, aber im Grunde ist das auch egal. Die für Kennedy wichtigen «Essentials» , die die Lebensfähigkeit der militärisch kaum zu verteidigenden Enklave garantieren sollen, beschränken sich jedenfalls von Stund an allein auf Westberlin – aus dem Blickwinkel des deprimierten Stadtoberhaupts ein schwerer Rückschlag, doch er zieht nun Schritt für Schritt die unvermeidlichen Schlüsse daraus.
    Zu den ersten gehört, dass die bisherige und auch bei ihm in mancherlei Hinsicht auf frommem Selbstbetrug basierende Deutschlandpolitik der Bonner Republik keinen Sinn mehr ergibt. Mit der stillschweigenden Übereinkunft der Supermächte, an der hochproblematischen Nahtstelle ihrer Einflusszonen eher ein menschenverachtendes Bauwerk zu dulden, als den großen Krieg heraufzubeschwören, ändern sich konsequenterweise die Prämissen. Die Realität ist fortan der Status quo – und wer den ändern möchte, was Brandt nach wie vor für unabdingbar hält, hat ihn zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen.
    Obschon er in seiner «geschundenen, bedrückten, grausam zerrissenen, aber mutigen und herrlichen Stadt» dringend gebraucht wird, unterbricht der Spitzenmann der Sozialdemokraten den Bundestagswahlkampf nur für wenige Tage. Anders als Konrad Adenauer, der die Katastrophe an der Spree nach Kräften herunterspielt und sich dort lediglich zu einer Stippvisite blickenlässt, zieht der Herausforderer weiterhin als im Grunde überparteilicher Friedensfürst durch die Republik. Wo immer er in den anstrengendsten Wochen seines bisherigen Lebens aufkreuzt, wirbt er «im Zeichen der Mauer» für gemeinsames Handeln in allen die «nationale Existenz unseres Volkes» berührenden Fragen und setzt sich selbst dann kaum zur Wehr, als ihn der perfide ausrastende Kanzler seiner unehelichen Geburt wegen («… alias Frahm») auf seinen Veranstaltungen eine glatte Fehlbesetzung nennt.
    Erst in der Schlussphase einer der niederträchtigsten Kampagnen der deutschen Parlamentsgeschichte, in der Brandt von Konservativen im Westen als ehemaliger Rotfrontkämpfer und im Osten als Verbindungsmann der Gestapo dämonisiert wird, zeigt der SPD-Kandidat Nerven. Physisch und psychisch ausgelaugt, versinkt er tagelang in einer Stimmung, die ihn in späteren Zeiten öfter ereilen wird: Er will alles hinschmeißen, weil er solchen Gemeinheiten auf Dauer nicht gewachsen zu sein glaubt, und es bedarf der Einfühlsamkeit seines Vertrauten Heinrich Albertz, der ihm mit Hingabe als Seelsorger zur Seite steht.
    Dabei erfüllt er mit dem Ergebnis, das er am 17. September erzielt, durchaus sein Soll. Den im zwölften Jahr unangefochten im Sattel sitzenden Amtsinhaber auf Anhieb ablösen zu können, hat er vorher selbst für unwahrscheinlich gehalten, aber nun bricht er mit einem Stimmenzuwachs von 4,4 Prozent immerhin dessen absolute Mehrheit. Um an der Regierung bleiben zu können, muss der Kanzler den Liberalen versprechen, nach der Hälfte der neuen Legislaturperiode abzudanken, während sich für die SPD interessante Spielräume eröffnen. Erstmals loten namhafte Vertreter von Schwarz und Rot die Chancen aus, nach dem Ende der Ära Adenauer eine Große Koalition einzugehen.
    Willy Brandt drängt es schon damals in die Verantwortung. Wie in Berlin nach dem Ultimatum Chruschtschows wirbt er nun auch in der Bundesrepublik für ein Allparteienbündnis – aus seiner Sicht eine der aktuellen Lage angemessene «Notgemeinschaft», in der dann er unter der Führung des Christdemokraten Eugen Gerstenmaier wohl als Außenminister fungiert hätte. Doch gegen das Veto des unvermindert machthungrigen «Alten von Rhöndorf» lässt sich dieser Plan, den sogar der Staatspräsident Heinrich Lübke favorisiert, noch nicht durchsetzen.
    So bleibt ihm der Sprung an den Rhein einstweilen verwehrt, und das auch deshalb, weil ihm weder der SPD-Chef Erich Ollenhauer noch der starke Mann der Sozialdemokraten im Parlament, Fritz Erler, einen halbwegs adäquaten Job anzubieten haben. In seiner Partei gehört der zum Hoffnungsträger erkorene Spitzengenosse noch nicht einmal dem Präsidium an; eine wahrhaft absurde Situation. Erst mit Hilfe Herbert Wehners steigt er wenigstens zum stellvertretenden Vorsitzenden auf und darf danach eine im Kern überflüssige «Planungsgruppe» leiten.
    Sein eigentliches Terrain ist aber wie eh und je die einstige Hauptstadt, die ihm fortdauernd so sehr am Herzen liegt, dass er aus Gründen der

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