Wilsberg 05 - Wilsberg und die Wiedertaeufer
Pistole über den Domplatz zu treiben. Im Moment gab es Wichtigeres zu tun. Mit meinem Vermieter würde ich mich schon irgendwie einigen.
Frau Rasch musste gespürt haben, dass mit mir nicht gut Kirschen essen war, denn sie begnügte sich mit einem einfachen »Sie schon wieder!« und brachte mich widerstandslos bis an die Schwelle des professoralen Arbeitszimmers.
»Ah«, rief Professor Rasch aus den Tiefen der Büchergruft, »der Herr Wilsberg.« Freudig kam er mir entgegen.
»Ich habe nicht viel Zeit«, baute ich einer längeren Unterhaltung vor. »Es geht um Leben oder Tod.«
»Wie aufregend.« Er guckte sich um. »Sie möchten sicher rauchen.«
Ich musste warten, bis er seine Pfeife gestopft hatte. Dann erst war er bereit, einen Blick auf meinen Zettel zu werfen. »Auf halbem Weg, den der Apostel Klopriß nahm«, las er laut. »Klopriß, ja, ja. Der trat, wenn ich mich nicht täusche, in der Endphase des Täuferreiches auf. Das haben wir gleich.«
Die folgende Prozedur kannte ich schon. Professor Rasch zog mehrere Bücher aus verschiedenen Stapeln und blätterte darin herum. Dazu stieß er dicke Rauchwolken aus.
»Wie ich vermutet habe«, nuschelte er um die Pfeife herum. »Klopriß gehörte zu den siebenundzwanzig Aposteln, die im Oktober 1534 in die umliegenden Städte entsandt wurden. Sie sollten die dortige Bevölkerung missionieren und dafür sorgen, dass das belagerte Münster durch ein Heer von außen entlastet wird. Hat natürlich nicht geklappt.« Er nahm die Pfeife aus dem Mund. »Klopriß war noch der Erfolgreichste. Für ein paar Tage herrschten in Warendorf die Wiedertäufer.«
»Das heißt, er ist nach Warendorf gegangen?«, fragte ich, um mich zu vergewissern.
»Sicher. Kerssenbrock beschreibt ihn sehr nett. Hören Sie: ›Johann Klopriß betrat am 14. Oktober mit missgestaltetem Gesicht und Bart in Begleitung seiner vier Genossen Warendorf. Zuerst fingen sie nach ihrer Weise mitten auf dem Markt, dann in den Straßen den Bußruf an. Darauf gingen sie …‹ { 12 } «
»Danke, danke«, rief ich. »Das genügt. Warendorf also. Was liegt denn auf halbem Weg nach Warendorf?«
Missmutig nuckelte der Professor an seiner Pfeife. »Telgte, würde ich sagen.« Vermutlich ging ihm das alles viel zu schnell.
Ich stand auf. »Haben Sie vielen Dank!«
»Setzen Sie sich!«, zischte Rasch. »Sobald Sie weg sind, muss ich die Pfeife ausmachen. Also bleiben Sie gefälligst noch zehn Minuten! Und erzählen Sie mal, was um acht Uhr auf dem Marktplatz in Telgte passiert!«
Nichts. Jedenfalls nichts Aufregendes. Der Marktplatz war nicht gerade ausgestorben, nein, einzelne Telgter und Telgterinnen, manchmal sogar ganze Telgter Familien betraten den kleinen kopfsteingepflasterten Platz und überquerten ihn zielstrebig, vorbei an der Skulptur des Stadtausrufers, die genauso niedlich war wie das Städtchen ringsum.
Ich hatte mich in den Eingang der Stadtbücherei verkrochen, um dem kalten Wind zu entgehen, der über den Platz pfiff. Die »erste Gaststätte am Platz« war nicht schwer zu identifizieren, denn es war auch die einzige. Sie lag direkt gegenüber, sodass ich, ohne selbst gesehen zu werden, beobachten konnte, wer zu dem Treffen des Kommandos Jan van Leiden kam. Außerdem überblickte ich drei der vier Zufahrtsstraßen, die zu dem zentral gelegenen Marktplatz führten.
Um Viertel vor acht kam der Erste, den ich aus dem Ferienhäuschen in Ottmarsbocholt kannte. Nach und nach stellten sich weitere Wiedertäufer ein. Natürlich hätte ich einfach hinübergehen und an der Versammlung teilnehmen können. Aber dann hätte man von mir Erklärungen verlangt, die ich entweder nicht geben konnte oder nicht geben wollte. Denn wenn Tobias Frank nicht vollkommen blöd war, hatte er inzwischen zwei und zwei zusammengezählt und messerscharf geschlossen, dass ich der Einbrecher sein musste.
Der Reporter erreichte als einer der letzten den Marktplatz. Er parkte seinen japanischen Billigimport im absoluten Halteverbot und eilte mit schnellen kurzen Schritten zur Kneipe.
Langsam wurde ich nervös. Es war schon nach acht, und Mareike hatte sich noch immer nicht blicken lassen. Was sollte ich machen, wenn sie nicht kam?
Als ich schon drauf und dran war, Stürzenbecher anzurufen, um ihm das Kommando Jan van Leiden zum Fraß vorzuwerfen und damit meine Haut zu retten, sah ich eine Gestalt im schwarzen Mantel und mit rötlich schimmernden Haaren. In weniger als zehn Sekunden wechselte ich meinen Standort und lauerte
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