Wilsberg 05 - Wilsberg und die Wiedertaeufer
Seite. »Und jetzt gehen Sie und sagen Sie Ihren Freunden, dass sie mit dem Unfug aufhören sollen!«
»Und was ist mit Martin? Wird er sich der Polizei stellen?«
»Das ist eine Sache, die er mit seinem Abt besprechen muss. Darauf haben wir keinen Einfluss.«
Ich beugte mich vor, sodass ich seinen Schweiß riechen konnte. »Noch einmal: Verzichten Sie auf Strafanzeigen?« Kratz hüstelte. »Wir denken darüber nach.« Vor der Tür wartete der schweigsame Bruder Pförtner, der mich mit einer Kopfbewegung aufforderte, ihm zu folgen.
In dieser Nacht kam Mareike nicht. Unruhig und von Zweifeln geplagt ging ich ins Bett. War Martin der Verräter, oder war er es nicht? War er abgeschoben worden oder geflüchtet? Hatten der Weihbischof und Kratz tatsächlich nichts gewusst? Aber wie ließ sich dann erklären, dass in der Domkammer eine Kopie des Waldeck-Bildes gehangen hatte, als die Wiedertäufer zuschlugen? Und was war mit Tobias Frank? Dass er der Polizei mein Foto geschickt hatte, stand für mich außer Frage. Nur ein persönlicher Racheakt? Letzteres zumindest würde sich, mit ein wenig Glück, herausfinden lassen.
Dazu besann ich mich am nächsten Morgen auf die urdetektivische Tugend des Schnüffelns. Im Keller fand ich noch einen blauen Arbeitsanzug, außerdem nahm ich meinen Werkzeugkasten mit nach oben. Dann rief ich unter falschem Namen in der Redaktion an und ließ mich mit Tobias Frank verbinden. Als er sich meldete, legte ich auf.
Frank wohnte in einem Haus mit vielen Mietparteien. Ich drückte auf die beiden obersten Klingeln, und prompt brummte der Türöffner. Geräuschlos drückte ich die Tür zu und schlich die Kellertreppe hinab. Unter der Treppe wartete ich fünf Minuten. Im Haus war es vollkommen ruhig.
Franks Wohnung befand sich in der zweiten Etage. Eine einfache Holztür ohne große Finessen. Ich stellte den Werkzeugkasten ab und nahm ein Stemmeisen heraus. Ein Ruck, und die Tür sprang auf. Dann begann ich in aller Ruhe, das Schloss abzumontieren. Von oben näherten sich schlurfende Schritte. Jetzt kam es darauf an.
Die alte Dame blieb neben mir stehen. »Was machen Sie denn da?«
»Notdienst. Der Mann hat seinen Schlüssel verloren.«
»Herr Frank? Und da muss man gleich das ganze Schloss ausbauen?«
»Anscheinend hat er den Ersatzschlüssel bei jemandem liegen lassen, der verreist ist.« Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. »Kommt häufig vor.«
»Das ist aber dumm von Herrn Frank«, bemerkte die alte Dame.
»Anderenfalls wären wir ja arbeitslos«, lachte ich. »Hier, wenn Sie mal ein ähnliches Problem haben.« Ich reichte ihr eine Karte, die ich bei einem Schlosser mitgenommen hatte.
Sie las den Text laut vor: » Stehst du vor der Tür und kommst nicht rein, ruf einfach an hei Schlosser Wellenstein! Das ist aber ein netter Spruch.«
»Nicht wahr?« Ich tippte an die Mütze. »Und jetzt muss ich wieder an die Arbeit.«
Das ausgebaute Schloss drapierte ich neben dem Werkzeugkasten auf der Fußmatte. Auch die Tür blieb einen Spaltbreit geöffnet. Es sollte so aussehen, als wäre der Handwerker mal kurz auf dem Klo oder auf der Suche nach einer passenden Schraube.
Nach einer oberflächlichen Inspektion der kleinen Zweizimmerwohnung (viel schwarzer Achtzigerjahrestil mit dicken Staubschichten), bei der ich keine herumliegenden Notizen entdeckt hatte, interessierte ich mich eingehender für das Archiv des Reporters. Es nahm fast eine gesamte Wand des Wohnzimmers ein, vier dicke Aktenschränke, prall gefüllt mit Hängeregistern. Zum Glück waren die Stichworte, nach denen Frank das Material sortiert hatte, an den Vorderfronten der Schränke notiert. So fand ich ziemlich rasch die Mappe »Jan van Leiden« und darin das mich kompromittierende Foto. Zusammengefaltet steckte ich es in die Hosentasche.
Ansonsten brachte die Mappe keine neue Erkenntnis. Vor allem enthielt sie keinerlei schriftliche Aufzeichnungen. Falls Frank etwas aufschrieb, dann verwahrte er es an anderer Stelle. Ich wollte schon die Schublade zurückschieben, als mein Blick auf das nächste Stichwort fiel: »Kirche«.
Zu meiner Überraschung waren viele Fotos vergilbt und von schlechter Qualität. Die meisten zeigten einen männlichen Jugendlichen, der linkisch in die Kamera grinste. Er trug ein Messdienergewand, stand neben einem Pfarrer oder saß, zusammen mit anderen Jugendlichen, im Pfadfinderkostüm an einem Lagerfeuer. Die Brille, die schwere Akne und die abstehenden Ohren ließen keinen Zweifel zu:
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