Wilsberg 15 - Wilsberg und die Malerin
Dr. Walter Egli, an den Moment, als ich zum ersten Mal das mürrische Gesicht des alten Bankdirektors gesehen hatte. Das war vor knapp zwei Wochen gewesen, doch schon damals, im Venner Moor, hatte ich geahnt, dass es eine Last sein konnte, zu seiner Familie zu gehören.
Ich schaute zum Eingang der Klinik und beobachtete, wie Jean Gessner herauskam. Er hielt den Kopf gesenkt und bewegte sich mit schleppenden Schritten.
Ich stieß Nora an. »Er kommt.«
Als wir uns ihm näherten, bemerkten wir, dass er Tränen in den Augen hatte.
»Wie geht es Lena?«, fragte Nora.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er tonlos. »Ich habe viel geredet und sie hat viel geschwiegen. Ich glaube, wir waren beide erschüttert. Im Moment kümmert sich ihre Therapeutin um sie. Ich hoffe, dass es für uns beide einen Neuanfang geben kann.«
»Was ist mit Manfred?«
»Den will sie auf keinen Fall sehen. Ob sie vor Gericht gegen ihn aussagt, muss sich noch entscheiden. Ich will sie da nicht drängen.« Gessner schaute hoch. »Wir reden später darüber, Nora. Lass mich mit Herrn Wilsberg ein paar Worte unter vier Augen wechseln.«
Nora war erstaunt, sagte aber nichts.
Als wir so weit entfernt waren, dass Nora uns nicht mehr hören konnte, sagte der Bankdirektor: »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, ich habe Sie die ganze Zeit falsch eingeschätzt.«
»Ich bin nicht besonders empfindlich«, sagte ich. »Außerdem habe ich für Ihre Tochter gearbeitet.«
»Gerade darüber möchte ich mit Ihnen sprechen. Aber nicht jetzt und hier. Haben Sie heute Abend Zeit?«
»Ja.«
Er gab mir einen Zettel mit einer Adresse. »Das ist ein Lokal im Niederdorf. Um zehn? Und sagen Sie Nora bitte nichts davon!«
»Was hat er von Ihnen gewollt?«, fragte Nora, als ihr Vater weggefahren war.
»Er hat sich bei mir entschuldigt.«
»Mehr nicht?«
»Nein.«
Ich nahm ein Zimmer in dem Hotel am Limmatplatz, wo ich schon beim letzten Mal übernachtet hatte. Gegen zehn fuhr ich mit dem Tram zum Limmatquai.
Das Niederdorf liegt auf der rechten Seite des Flusses und ist das Vergnügungsviertel für diejenigen, die es etwas gesitteter, drogenfreier und teurer haben wollen als die Besucher der Langstraße. An diesem warmen Abend zogen Scharen von Deutsch, Englisch und Japanisch sprechenden Touristen durch die engen Gassen der Altstadt und tauschten die Plätze mit denen, die an den Holztischen vor den Lokalen saßen. Dass Jean Gessner ausgerechnet das belebteste Viertel der Stadt für unser Treffen ausgewählt hatte, verwunderte mich etwas.
Bald darauf sah ich ihn an einem Tisch am Straßenrand sitzen. Gleich nebenan räkelten sich mehrere knapp bekleidete Asiatinnen vor einem Stripteaselokal, in das sie allein herumirrende Männer zwecks Verabreichung sündhaft teurer Getränke zu locken versuchten.
Ich setzte mich zu Gessner und sagte, was mir durch den Kopf ging.
»Was wollen Sie?«, schmunzelte er. »Am wenigsten fällt man doch in der Masse auf. Jedenfalls muss ich nicht befürchten, dass hier jemand vorbeikommt, der mich kennt. In einem der guten Restaurants der Stadt wäre das ganz anders.«
Das leuchtete mir ein. Ich bestellte ein Bier und wartete auf das, was er mir zu sagen hatte.
Aber er ließ sich Zeit. Zuerst holte er ein Zigarrenetui hervor und bot mir eine seiner guten Kubanischen an. Eine Weile pafften wir gedankenverloren in den Nachthimmel.
»Ich bin froh, dass Sie das getan haben«, sagte er schließlich. »Erst jetzt wird mir klar, dass ich es die ganze Zeit nicht wahrhaben wollte. So eine Lüge nistet sich ein wie ein Tumor, der wuchert und wuchert. Man verwendet seine Kraft darauf, zu verdrängen, andere Erklärungen für das zu finden, was auf der Hand liegt.«
»Der Verdienst gebührt Nora«, sagte ich. »Sie hat es schon lange vermutet.«
»Aber Sie haben Schwarzenbacher zum Reden gebracht. Wie haben Sie das eigentlich geschafft?«
Ich lächelte. »Sie sagen mir ja auch nicht alles.«
»Stimmt. Wir verfolgen alle unsere eigenen Interessen, Sie, Nora und ich.«
»Was sind denn Ihre speziellen Interessen?«
»Ich wollte der Bank das Überleben sichern. Dabei bin ich Kompromisse eingegangen, die ich besser ausgeschlagen hätte, und habe mich mit Leuten eingelassen, denen ich besser aus dem Weg gegangen wäre.«
»Leuten wie Gottfried Guber«, bemerkte ich.
»Ja. Obwohl ich zunächst nicht wusste, dass Guber hinter der Firma in Münster steckt.«
»Haben Sie sich nicht mit Guber in Ihrem Haus getroffen?«
»Nein, Guber
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