Wind Der Zeiten
mir den Weg versperrte. Enttäuscht rüttelte ich mehrmals an dem Riegel. Und dann kam mir eine Idee. Vielleicht hatte man ja hier irgendwo einen Schlüssel versteckt. Das Türschloss war riesig, also musste es der Schlüssel auch sein. Da war es bestimmt mächtig umständlich, wenn man ihn immer mit sich herumschleppen sollte, nur für den Fall, dass jemand
das Bedürfnis verspürte, über das Tal zu blicken. Vorausgesetzt, irgendjemand hier hegte überhaupt derart romantische Gelüste. Sicher war das nicht.
Trotzdem ließ ich meine Finger bei flackerndem Kerzenschein über feuchte Steine gleiten, bis sie eine eingelassene Mulde fanden, in der tatsächlich ein großer Eisenschlüssel lag. Er ließ sich erstaunlich leicht im Schloss herumdrehen, ich stemmte mich mit aller Kraft gegen das schwere Holz, und dann – einmal offen – schwang die Tür lautlos auf. Fast so, als hätte kürzlich jemand ihre Scharniere geölt. Ich war also gewiss nicht die Erste, die in letzter Zeit den Turm bestiegen hatte.
Draußen blies mir ein frischer Wind entgegen. Aufgeregt betrat ich den Wehrgang, der rund um die oberste Etage verlief. Von unten hatte man es nicht sehen können, aber mitten auf dem Turm stand ein Gebäude, das nicht nur zum Schutz des Treppenaufgangs errichtet worden war. Es hätte nur noch ein Gärtchen gefehlt, dann hätte man annehmen können, jemand habe sich auf der Aussichtsplattform ein Häuschen gebaut. Die einzige Tür zu diesem Cottage, die ich entdeckte, ließ sich nicht öffnen, und seine Fenster waren winzig und mit kaum durchsichtigem Pergament, vielleicht waren es auch Tierfelle, verschlossen. Kurz entschlossen bohrte ich mit meinem Finger ein Loch in das ziemlich widerstandsfähige Material und spähte hinein. Ob dies einst die Räume und Waffenkammern der Wachen gewesen waren? Leider konnte ich im Inneren absolut nichts erkennen. Das Licht fiel nur trüb durch die anderen Fenster. Also weiter.
Die Turmzinnen rundherum erwiesen sich als überraschend hoch und breit. Wenn ich mehr als nur einen schmalen Streifen der Landschaft um mich herum sehen wollte, würde ich
hineinklettern müssen. Ein Schutzgitter – oder zumindest ein Geländer –, wie ich es von anderen Aussichtstürmen kannte, wäre begrüßenswert gewesen. Zum Glück plagte mich keine Höhenangst, und so wagte ich es schließlich, mich zwischen zwei Zinnen ganz aufzurichten. Eine Hand jedoch ließ ich lieber auf den wettergegerbten Steinen liegen, denn es war hier oben recht stürmisch. Eine Böe zerrte an meinem langen Rock, und ich sah dann doch nicht direkt nach unten, wo ich die geometrischen Strukturen des Barockgartens hätte bewundern können.
Die Aussicht über das Tal war noch besser als aus dem Fenster von Alans Zimmer. Gleann Grianachs Hügel erstreckten sich sanft abfallend unter mir bis zum Ufer des Sees. Loch Cuilinn glitzerte in der Sommersonne, und hoch über dem See kreisten lautlos zwei Milane. Der dunkle Wald am südlichen Ufer wirkte undurchdringlich, und sosehr ich mich auch bemühte, die Stelle zu erspähen, an der sich der Feenkreis befinden mussten, konnte ich ihn selbst von meinem luftigen Ausguck ohne Fernglas nicht entdecken.
Von Westen schoben sich Dunstschleier über die bewaldete Schlucht, die dieses Tal so effizient vom Meer trennte und zu einem verwunschenen, unbekannten Land werde ließ, in dem alles möglich zu sein schien. Die zarten Wolkengespinste verbanden sich mit dem Rauch aus zahllosen Kaminen verstreut liegender Cottages, der wie ein aromatisches, transparentes Federbett über dem Gleann Grianach und seinen Seitentälern lag. Darüber erhoben sich majestätisch und brillant die Gipfel von Beinn Mhòr und den benachbarten Bergen, die ganz oben als Beweis für die vergangenen kalten Nächte eine Schneemütze trugen. Weiter westlich entdeckte ich am Fuße des Hügels, auf dem Castle Grianach lag, die kleine
Siedlung direkt am Ufer des Sees. Kinder liefen herum, Frauen trugen Lasten, und auf den winzigen Parzellen arbeiteten zahllose Menschen. Jetzt wusste ich, woran mich dieser Anblick erinnerte: Die Werke von Brueghel kamen mir in den Sinn, auf denen der Maler faszinierende ländlich Szenen des Mittelalters festgehalten hatte.
Viel schien sich seither nicht verändert zu haben. Und galten die Schotten im Vergleich zum restlichen Königreich nicht sowieso als rückständig? Wen wunderte es, dieser rauen Landschaft ließen sich bestimmt nicht so ohne weiteres reiche Erträge abtrotzen. Obwohl
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