Wind Der Zeiten
Perspektiven. Was würde geschehen, wenn ich meinen neuen Zeitgenossen von den politischen Entwicklungen der Zukunft berichtete? Ich versuchte mich zu erinnern, was mir meine Freunde in den vergangenen Wochen über die schottische Geschichte erzählt hatten und was ich sonst noch wusste. Maria Stuart? Nein, die Königin war schon lange tot. Rob Roy? Möglich. Wenn der Film, den wir neulich zu dritt im Fernsehen angeschaut hatten, einigermaßen authentisch war, dann konnte es gut sein, dass sich der Rebell als Zeitgenosse herausstellte. Und war in dieser Story nicht auch der Herzog von Argyle, das Oberhaupt der Campbells, der Bösewicht gewesen, oder doch der Gute? Der Impuls war groß, gleich einmal im Internet nachzusehen, aber …
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag: Auf diese Informationsquelle würde ich hier verzichten müssen. Irrsinnigerweise beherrschte mich sofort der dringende Wunsch, Alan möge mehr als nur ein paar brauchbare Bücher sein Eigen nennen. Doch selbst wenn er eine gut sortierte Bibliothek besäße, hieße das noch lange nicht, dass ich die Texte auch lesen konnte. Von Latein hatte ich jedenfalls schon mal fast null Ahnung, es hatte nie zu meinen Lieblingsfächern gehört. Kein Internet, kein Fernsehen und nicht einmal eine
Zeitung. Wann war eigentlich die erste Tageszeitung erschienen? Mitte des siebzehnten Jahrhunderts? London war bestimmt neunhundert Kilometer entfernt. Wie lange eine Zeitung von dort bis in die entlegenen Highlands überhaupt unterwegs sein würde, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Dringend wünschte ich mir die Erinnerung an Fakten aus endlos langweiligen Vorlesungen zurück. Aber viel Nützliches über die hiesigen politischen Verhältnisse wäre ohnehin nicht dabei gewesen.
»Mit Verstand an ein Problem herangehen«, waren die Worte meiner Lieblingslehrerin gewesen. Was wusste ich also über meine neue Umgebung, was hatte ich bereits erfahren? Die Antworten auf diese Fragen konnten möglicherweise den Weg aus meiner doppelten Gefangenschaft weisen. Zum jetzigen Zeitpunkt schien eine Flucht nicht sinnvoll. Sollte ich tatsächlich durch irgendein abseitiges physikalisches Phänomen in die Vergangenheit gerutscht sein? Ich erinnerte mich schwach an irgendwelche Theorien, die besagten, dass eine fünfte Dimension existieren könnte, allerdings wäre die winzig klein und gewissermaßen blasenförmig an unserer Realität geheftet. Keine besonders erfreuliche Vorstellung.
Wie dem auch sei, es gab derzeit vermutlich wenige Orte, an denen ich sicherer war als in Castle Grianach. Immerhin stand ich, als Fremde und Frau, unter Alans Schutz, und mit etwas Glück würde er sich früher oder später an die Ereignisse am Feenkreis oder vielleicht sogar an Iain, mit dem er doch befreundet, zumindest aber bekannt war, erinnern. Und wenn ich hier hineingeraten war, dann musste es doch auch einen Weg hinaus geben – oder?
Also gut, wenn ich logisch an die Sache heranging, stellte sich zuallererst die – vielleicht überlebenswichtige – Frage:
»Was weiß ich über das Schottland der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts?«
Die Menschen waren nicht gut auf die Engländer zu sprechen, das wusste ich schon und hatte es darüber hinaus aus dem Gespräch der beiden Frauen herausgehört, die vielleicht für den Luxus und die elegante Welt weiter im Süden des Landes schwärmten, aber dennoch zuallererst Schottinnen waren. Angus, der Pferdeflüsterer, mochte die Engländer ebenfalls nicht besonders. Ein seltsames Gefühl von Heimweh schnürte mir plötzlich das Herz ab, als ich an den alten Mann dachte, mit dem ich in den letzten Wochen viel Zeit verbracht hatte. Ihm war es zu verdanken, dass ich die Leute hier überhaupt verstehen konnte. Hätte er nicht Vergnügen daran gefunden, sich mit mir in seiner Muttersprache zu unterhalten, obwohl ich ihn anfangs kaum verstand, wäre ich jetzt ganz schön aufgeschmissen gewesen.
Die kalte Mauer in meinem Rücken half mir, wieder zu klarem Verstand zu kommen. Du bist in der Vergangenheit gefangen, Johanna, ermahnte ich mich. Du darfst die Nerven nicht verlieren. Dazu gehörte auch, keine Selbstgespräche zu führen. Das Klügste wäre es wahrscheinlich, erst einmal die Umgebung zu erkunden und dabei Augen und Ohren offen zu halten.
Mit weichen Knien ging ich über unebene Stufen und Treppenabsätze weiter hinauf. Vorbei an schmalen Holztüren und Fensteröffnungen gelangte ich schließlich an eine weitere Tür, die
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