Wind & Der zweite Versuch
hielt. Stattdessen trugen alle lebenden Anwesenden Filtermasken vor den Gesichtern, hauchdünne, grauneblige Folien, die die Szenerie zusammen mit der Leiche, dem behutsamen Spurensicherungsteam und dem wie in Trance agierenden Medium in ein surreales Gemälde verwandelten. 85 Jahre alt, 85 Jahre Gestank, dachte sie. Forêt redete in seiner gewollt lässigen Art auf sie ein, spulte die Fakten ab, die bisher zur Hand waren, und nickte sich selbst beim Reden gedankenvoll zu. Isabelle hörte ihm nicht zu, sie versuchte, die Atmosphäre dieses kleinen Raums in sich aufzunehmen, in dem Webster offenbar schon so lange vor sich hin vegetiert hatte. Sonnenlicht fiel in schmalen Bahnen durch die eingeschmutzten Fensterscheiben. Sie suchte nach einem Ofen, aber sie konnte keinen entdecken. Ein Feldbett, ein mit Tintenflecken übersäter Sekretär, aufgetürmte Kisten, die beschriebenes Papier enthielten, und Staub. Und die Leiche, in einem unsäglich zerschlissenen und schmuddeligen Morgenmantel, aus dem dürr wie Stecken die Arme und Beine eines steinalten Mannes herausragten. Isabelle mußte an einen verrückten Organisten denken, der sich beim letzten Akkord über die Tasten und Register geworfen hatte, um zusammen mit seiner Musik zu vergehen. Eine Orgel, dachte sie leicht defokussiert, dieser Raum ist eine Orgel. Als sie das dachte, fühlte sie den interessierten Blick des Mediums auf sich ruhen. Das war ihr unangenehm, sie mochte die Medien nicht, sie glaubte nicht einmal an sie, auch wenn ihre Arbeit unzweifelhaft erfolgreich war. Perval kannte sie nun schon seit fünf Jahren, sie waren praktisch gleichzeitig zur Polizei gekommen, und der durchdringende Blick dieses Mannes, der nun schon bei einigen spektakulären Mordfällen wichtige Hinweise geliefert hatte, wühlte sie auf. Der Gedanke, jemand könne wie durch Glas durch sie hindurchsehen, machte ihr keine Freude. »Gar nicht«, hatte er einmal auf ihre Frage geantwortet, wie er seine Arbeit eigentlich verstehe, und dann hatte er ihr eine Vortrag über »Wahrscheinlichkeitsfrakturen«, »Zeitschlaufen«, »Nebenrealitäten« und ähnlichen Unsinn gehalten, dem sie nach drei Sätzen nicht mehr hatte folgen können. Aber in der Nacht darauf war sie von ihrem eigenen Orgasmusschrei aufgewacht, aus einem Traum mit Perval in der zweiten Hauptrolle. Sehr unangenehm. Perval kam auf sie zu, während Forêt immer noch vor sich hinbrabbelte, und sagte:
»Ich kann nichts finden, Kommissarin. Hier ist nichts.« Forêt, der es nicht mochte, wenn jemand nicht zuallererst mit ihm sprach, sah Perval wütend an und sagte:
»Was Sie nicht sagen? Na dann vielen Dank, M. Perval.« Und nachdem Perval gegangen war, hatte Forêt erst ihr und dann den Kisten zugenickt und gesagt:
»Das übernehmen Sie.«
Sie hatte es übernommen, wenn auch nicht gern, und nach zwei Wochen stand für sie so gut wie sicher fest, daß die Aufzeichnungen absolut nichts enthielten, was zur Aufklärung von Websters Tod beitragen konnte, aber sehr viel darüber, wie er gelebt hatte. Schon beim ersten Anblick der Kisten hatte sie darüber gestaunt, wie wenig vergilbt die Papiere gewesen waren, und im Verlauf ihrer Forschung hatte sie den Grund dafür entdeckt: das älteste Papier, das sie hatte finden können, trug das Datum 28.7.61 und war demzufolge nicht einmal sechs Jahre alt. Es gab unter den Papieren fast keines, das nicht in irgendeinem Zusammenhang mit dem Weltraum, der Raumfahrt und der Ankündigung des zweiten Versuchs stand, jedenfalls hatte sie in zwei Wochen nur zwei oder drei davon gefunden. Webster hatte einen weiten Bogen in diesen sechs Jahren gespannt, nicht nur die Naturwissenschaften hatte er in seine Überlegungen zu Apollo II einfließen lassen, nicht nur die Politik und die Religion, nein, auch Literatur, Philosophie, Medizin, alles was sich an den Haaren herbeiziehen ließ, um damit in Verbindung gebracht zu werden, hatte er an den Haaren herbeigezogen. Isabelle hatte sogar den Eindruck, als hätte Webster die ganze Welt rückwirkend aus dem zweiten Versuch heraus erklären wollen, vom ersten Faustkeil an. Da gab es lange Vorträge über die Geschichte der Raumfahrt, von den ersten halb mythischen Versuchen im alten China bis zur Errichtung der Großstationen à la »Infinity«, es gab seitenweise Abschriebe aus uralten Zeitschriftenartikeln über wissenschaftliche Entdeckungen, Blätter voller chemischer Strukturformeln, Kurzbiographien von Leuten, die sie nicht einmal dem Hörensagen
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