Wind & Der zweite Versuch
nach kannte, und völlig sinnloses Zeug, wie zum Beispiel dieses eine Blatt vom 12.5.65, das nur mit den Wörtern »Deutschland« und »Amerika« bekritzelt war, über und über. Wernher von Braun. Das war einer der Namen, der am häufigsten in Websters Aufzeichnungen fiel, und sie hatte erst in einem Lexikon nachsehen müssen, um ihn als den Konstrukteur der Saturn V-Rakete des historischen Apolloprojekts zu identifizieren.
Wernher von Braun, hieß es da auf Websters linierten Zetteln, ist viel mehr als ein brillanter Techniker oder Ingenieur, an den sich zehn Jahre nach seinem Ableben niemand mehr erinnert. Als Luzifer aus dem Garten Eden ausgestoßen wurde, so heißt es, nahm er ein Drittel der himmlischen Heerscharen mit in die Hölle: Wernher von Braun war im letzten Jahrhundert die zeitgemäße Manifestation eines der dunklen Erzengel, die Luzifer zu Diensten sind. Er ist das geschändete wissenschaftliche Weltgewissen, der Archetyp des gefallenen Lichtbringers, Vorbild all der Oppenheimers, Tellers und Kawatanes, die diese Welt der Wunschvorstellung ihres dunklen Herren so ähnlich gemacht haben. Das hatte Webster am 1.3.64 notiert.
Apollo war ein Propagandaunternehmen. Damals wollte man den Vietnamkrieg mit einem wissenschaftlich-technischen Spektakel zudecken, also was soll heute zugedeckt werden? Ich bin mir sicher, daß es damals eine bewußte Hinlenkung des ganzen öffentlichen Lebens auf das Mondabenteuer durch interessierte Gruppen gegeben hat. Wer lenkt heute? Die Antwort darauf ist wichtig (Kennedy usw.) und sie liegt im politisch-militärischen Niedergang und der Spaltung der USA nach dem Bürgerkrieg, aber sie liegt dort nicht allein. Wichtig: die Rolle der CSS in dem Ganzen. Wichtig: die Gelder aus dem reichen Süden (Saudi-Arabien usw.) und den ehemaligen Hungerländern. Sozioökonomische Entwicklung der ehemaligen USA verfolgen. An Schriftmaterial über die CSS herankommen. 5.10.62
Leere Verschwörungen. Die Raumfahrt als leere religiöse Geste. Mit x-fachem Schub ins Nichts. Nichts-Sucht bei all diesen Leuten. Ziolkowski. 1.8.67
Was ein manischer Wille muß hinter diesem Unternehmen gestanden haben, dachte sich Isabelle, als sie an diesem Abend, lange nach Dienstschluß, wieder einmal vor der Wand aus Kisten stand, die ein Greis in sechs Jahren aus Gekritzel errichtet hatte, eine große chinesische Mauer aus Gekritzel. Aber warum auch nicht? Sein Leben war vorbei gewesen, andere sammelten Briefmarken oder historische Computergeräte mit ihren kryptischen Betriebssystemen, warum hätte sich Webster nicht mit dem zweiten Versuch beschäftigen sollen? Andererseits: diese Hartnäckigkeit. Die Krankenschwester, die Webster angestellt hatte, damit sich jemand um seine Gesundheit und seine Ernährung kümmerte, hatte ausgesagt, daß Webster in den letzten fünf Jahren kaum Besuch bekommen hatte, abgesehen von einem mysterösen Monsieur X: etwa siebzig, hager, Brille, Hakennase, meist dunkel gekleidet, deutscher Akzent. Abgesehen von den Besuchen des Monsieur X und den Dutzenden von verschiedenen Magazinen, die er in einer eigens dafür hergerichteten Feuerstelle nach der Lektüre verbrannt hatte, hatte Webster offenbar keinen Kontakt zur Außenwelt gehalten. Forêt, dieser Idiot, dachte Isabelle, beliebig in einer Kiste kramend. Glaubt natürlich, daß Monsieur X etwas mit Websters Tod zu tun hat. Idiot, Idiot, Idiot, Idiot. Sie zog wahllos einen Zettel heraus. Es handelte sich um eines der üblichen linierten Schulheftpapiere, die Webster wer weiß wo aufgetrieben hatte, aus den Läden waren sie jedenfalls schon lange verschwunden. Wie so oft lag das Blatt nicht mehr in seiner rechteckigen Form vor, sondern Webster hatte durch Abreißen kleiner Stücke ein absolut unregelmäßiges Vieleck mit faserigen Rändern daraus gemacht. Isabelle glaubte, daß Webster auf diese Art seine Konzentration bei der Stange gehalten hatte, oder daß ihm das viereckige Papier in seinem Spleen an sich schon zu regelmäßig vorgekommen war.
Auf diesem Wisch stand zu lesen: Sie wollen es also wirklich noch einmal wissen. Nach dieser absoluten Pleite von 1969 ein zweites Mal. Wahrscheinlich werden sie es auch diesmal nicht schaffen, sondern einige Milliarden Credits, maßlose technische Kreativität und zwei bis drei Menschenleben in den Sand setzen. Aber es geht ja gar nicht darum, den Mond zu erobern. Es geht um eine Rekonstruktion der USA. Wenn ein amerikanischer Astronaut tatsächlich den Fuß auf den Boden des
Weitere Kostenlose Bücher