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Wind & Der zweite Versuch

Wind & Der zweite Versuch

Titel: Wind & Der zweite Versuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Hammerschmitt
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Verbotenste überhaupt, das Licht hätte dem Feind helfen können. Nun gut, alle diese Regeln waren von Leuten gemacht worden, die noch nie eine Schicht in einem Wachturm der Argus-Serie geschoben hatten, und so waren ihm einige Regeln schlicht und ergreifend egal. Er bildete sich im Durchschnitt weniger Freiheit auf diese kleinen Eskapaden ein als seine Regimentskameraden, aber ohne sie leben wollte er auch nicht. Der Feind war sehr ruhig heute Nacht, abgesehen von der chaotischen Vielzahl von Radioprogrammen, die Franz aus dem Norden hätte empfangen können, was er aber lieber bleiben ließ: Feindsender zu hören wurde noch strenger bestraft als Alkohol im Dienst. Eigentlich war der Feind meistens ruhig, zumindest seit Franz bei den Grenztruppen Dienst tat. Von der Zeit gleich nach der Teilung wurden da andere Dinge erzählt. Organisierte Banden, die mit Gewalt aus dem Norden hatten eindringen wollen, um ihre kranken Gene und Gedanken in den Süden einzuschleppen: Löcher in der Mauer, gesprengte Wachtürme, niedergemetzelte Grenzpatrouillen. Das war alles Vergangenheit. Er blickte noch einmal auf das Kontrollpanel zu seiner Linken: alle Systemanzeigen grün, die Fallen gespannt, die Minen scharf. Sein trüber und müder Blick glitt über die verschmutzten Flexoplastlaminate, mit denen der Innenraum des Wachturms ausgekleidet war. Divisionen von Wachmannschaften hatten absichtlich oder unabsichtlich schwarze Steifen von den Gummisohlen ihrer Springerstiefel an den Wänden hinterlassen, die nun vor seinen Augen ein tanzendes Muster der Langeweile bildeten. Er blickte zum Himmel auf. Der Mond stand klar und still. Dort oben zog ein silbriger Punkt durch die sternenhelle Nacht, wahrscheinlich eine der Bonzenstationen. Klose konnte sie an ihrer Umlaufzeit unterscheiden, und wenn er nicht schlafen konnte, kam er nach oben, obwohl er keine Schicht hatte und langweilte Franz mit seinem Geschwätz über Weiber, den Norden und sein Hobby: die Astronomie. Dann konnte es sein, daß er plötzlich zum Himmel aufsah und sagte:
    »›Rama II‹, von IBM«, oder »›Opus Dei‹, Vatikan« oder »›Infinity‹, First national. Da müßte man sein, da oben, im Orbit, und nicht hier in diesem Scheiß-Wachturm.«
    Und dann gähnte er meistens und verzog sich wieder in den Bunker am Fuß des Turms, wo beide ihre Schlafkojen hatten. ›Alter Wichser‹, dachte Franz mit einer Mischung aus Verachtung und Neid: eines Tages würde er die dämlichen Pin-ups in Kloses Koje abreißen, sie würden sich streiten, und der Schnellere würde dem Langsameren eine Kugel in den Kopf schießen, den Grenzabschnitt lahmlegen und in den Norden verduften. Und das alles aus lauter Langeweile. Ein Cousin von Franz war im letzten Monat nach Südamerika gegangen, als Söldner für die BASF. Stolz hatte er das Überlebensmesser hergezeigt, das zur Not Stahl schnitt: federleicht, eigentlich nur ein Hauch, aber wenn man die Klinge berührte, konnte einem der Daumen abfallen, und man merkte es nicht einmal.
    »Und weißt du, woraus die Klinge ist?« hatte Utz ihn gefragt. »Da kommst du nie drauf!«
    Aber Franz hatte es wohl gewußt: Wilkinson machte seit einem halben Jahr für nichts anderes mehr Werbung als für seine mikrostrukturierten Papierklingen. Utz war immer ein Schwachkopf gewesen. Einige Zeit später schrak Franz aus einem leichten Schlaf auf, und das Geräusch, das ihn hatte aufschrecken lassen, identifizierte er sofort: Schritte. Während er das Kontrollpanel überblickte, um die hellgelb flammenden Felder zuzuordnen, merkte er, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Das Signal war eindeutig: etwa anderthalb Kilometer vom Standort des Wachturms entfernt hinkte jemand an der Grenze entlang, etwa fünfzig Meter außerhalb der Zone, in der er automatisch auf die Tatsache hingewiesen wurde, daß er im Begriff war, die Grenze des Vereinigten Süddeutschlands zu verletzen. Noch einige Dutzend Meter auf die Grenze zu, und die Anzeigen auf dem Panel würden von Gelb auf Rot umspringen, eine Standleitung würde freigeschaltet werden zur Zentrale, und die äußerste Minenlinie würde automatisch in Zündungsbereitschaft gehen. Franz stand am Fenster, sein Gewehr in der Hand, und blickte angestrengt in den Wald hinunter, aber da waren viele schwache Infrarotflecke, Rehe oder andere Tiere, und er konnte nichts Genaues erkennen. Er befahl dem System, auf die Infrarotkameras und die optimal gelegenen Mikrofone im betreffenden Grenzabschnitt durchzuschalten. Vor

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