Wind & Der zweite Versuch
Gehilfen so weit gegangen, ihn mit Gebrüll und brutaler Gewalt von dem Mittelpfosten in der Zendohalle wegzureißen, an den er sich geklammert hatte, um nicht noch einmal vor den Roshi geführt zu werden. Große Willenskraft, murmelte Sato Giei vor sich hin. Hatte sich Bodhidarma nicht die Oberlider abgeschnitten und neun Jahre in tiefer Meditation auf eine Wand gestarrt, um dem Wesen des Buddhas näher zu kommen? Hatte Niso Eka sich nicht den Arm abtrennen müssen, um von Bodhidarma als Schüler anerkannt zu werden? Was braucht der Zen-Mönch, um sich überhaupt auf den Pfad zu begeben? Dai-Gidan, Dai-Funshi und Dai-Shinkon: Großen Zweifel, Große Willenskraft, Großen Glauben. Was aber brauche ich, fragte sich Sato Giei, um eine Frage zu beantworten wie: Ihr Mönche, es gibt das Liebesherz und es gibt das Herz des allumfassenden Mitgefühls. Was aber ist das Tiefenherz, das ich allein das wahre Wesen des Herzens nennen will? Wie versteht ihr das dritte Herz? Antwortet mir! Das Mönchsgewand an seinem Leib wirkte, als hinge es bloß so an ihm herab, und seine Gedanken konnte er genauso an sich herabhängen fühlen wie alte Lumpen, nichts von Wert dabei. Er war im neuen Jahr ins Kloster eingetreten, und seitdem, so glaubte er, dem Wesen des Buddhas nicht einen Schritt nähergekommen. Wie gern hätte er auf die Frage nach dem dritten Herzen einfach dasselbe geantwortet, was Hsiang-lin auf die Frage nach dem Kommen aus dem Westen geantwortet hatte: Vom langen Sitzen müde. Aber er wußte genau, daß der Meister eine derartige Antwort als billige Ausflucht und Rückfall in ein Gemisch aus Büchergelehrsamkeit und Bequemlichkeit entlarven würde, und daß ihm eine solche Antwort also nichts weiter einbringen würde als neue Fußtritte und neue Stockschläge. Panische Angst stieg in ihm hoch. Was würde sein, wenn der Meister auf seine Antwort ihn nicht einmal schlagen, sondern nur, wie schon so oft, bemerken würde: Du armer, höhlenbewohnender Teufel! Am Ende des Ganges. Licht durch die Papiertüren. Zwei Schläge auf der Standglocke. Und hinein. Dreimalige Verbeugung. Das kahle Gesicht des Meisters, Affenfalten um den Mund. Vor ihm das Shippei-Bambusstöckchen: ein Schwert, das lebendig macht, ein Schwert, das tötet. »Was hast du mir zu sagen, Sato Giei?« Und ohne, daß er das gewollt hätte, brach es in ihm durch: »Nichts von Wert!« Der Meister fing laut an zu lachen und sagte:
»Der Finger, der auf den Mond zeigt, ist nicht der Mond. Vom Nichts zu faseln ist kein Zen.«
Und er drückte auf den Klingelknopf, der Sato Giei zum Weitermeditieren in die Zendo-Halle verabschiedete. Während er mit aneinandergelegten Händen seine Verbeugungen vollzog, murmelte der Meister: »Du armer, höhlenbewohnender Teufel!« Und hinaus.
Sie machte Licht: da standen sie wieder: zwanzig, dreißig Kisten voller eng bekritzelter Hefte, Tagebücher, Schmierzettel und Servietten. Sie wünschte sich im Grunde nichts mehr, als auf ihr Rad zu steigen, und durch den glühenden Sommerabend zu gleiten. Aber der Fall war noch nicht abgeschlossen, und sie war die Assistentin von Monsieur Forêt, und für M. Forêt war klar, daß die schriftlichen Hinterlassenschaften Websters ihr Problem waren. Sie hatte ein Jahr in Nordkalifornien verbracht, sie war seine Assistentin und war deswegen für die Kleinarbeit zuständig, während er ganz den souveränen Kriminologen abgab, vor allem gegenüber der Presse. Dabei war doch schon so gut wie sicher, daß Webster schlicht und einfach an Altersschwäche gestorben war: mit 85 weiß Gott keine Kunst. Aber weil Webster sehr reich gewesen war, der letzte und offenbar völlig verdrehte Erbe einer Öldynastie aus den ehemaligen USA, bemühte sich die Presse um einen Fall, und Forêt bediente diese niederen Instinkte auch noch mit leicht mehrdeutigen Ergebnissen der Autopsie und diesem dramatischen Bild von Webster, wie er da mit dem verkanteten Kopf und den offenen Augen auf seinem Sekretär lag, als hätte er sich darübergelegt, nur um als Leiche ein gutes Bild abzugeben. Aber wer wußte das schon so genau? Forêt war zu allem fähig, auch dazu, einer kleinen Krankenschwester einzureden, sie habe diesen Mann bereits auf dem Schreibtisch liegend vorgefunden, und nicht auf dem Teppich vor dem Schreibtisch, wie sie sich unmaßgeblicherweise zuerst eingebildet hatte. Dieser Gestank, als sie in den kleinen Glaspavillon eingetreten war, dessen Fenster man aus Gründen der Spurensicherung geschlossen
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