Wind & Der zweite Versuch
seinem rechten Auge tanzte jetzt ein großer schwachroter Fleck, und er hörte den Atem des Hinkenden, ein angestrengtes Keuchen, als wäre er verletzt. Franz war beunruhigt: unter normalen Umständen hätte sein ganzes Sichtfeld hellrot aufleuchten müssen, so gut wie der Grenzverletzer von der Abschnittskamera erfaßt war. Also trug der da unten eine Infrarotabschirmung. Franz war sich unsicher, was er tun sollte. Immerhin hatten schon einige von den Kameraden Gespenster gesehen, die wurden dann auf Kur in den Schwarzwald geschickt und später ehrenvoll entlassen. Klose hatte ihm schon mehrfach von einem Grenzgänger dahererzählt, der während seiner Schichten scheinbar aus Spaß in den Minenfeldern herumtanzte, ohne eine Detonation zu verursachen, weil er die Position der Minen exakt ahnte. Wenn das ein Verrückter war, der sich nur auf Kosten der Grenztruppen in die Luft sprengen wollte, konnte er ihm eigentlich egal sein, aber wenn er dann vorher keine Meldung an die Zentrale gemacht hatte, würde er die Scheiße am Hals haben.
»Hallo Zentrale, hier Wachhabender Ortlieb, Grenzabschnitt 4b, Turm 23.«
»Wachhabender Ortlieb, hier Zentrale, ich höre?«
»Potentieller Grenzverletzer in Zone Gelb, Entfernung eintausendfünfhundert Südsüdwest, Erstkontakt 0421, bewegt sich auf Grenzabschnit 4c zu. Bitte um Anweisungen.«
In der Leitung blieb es eine Zeitlang still.
»Potentieller Grenzverletzer erfaßt. Mangelnde Datenbasis für wahrscheinliches Verhalten. Fixieren und warnen, Ortlieb.«
Franz ging zum Kontrollpanel, gab die Koordinaten ein und machte Licht in der Bude. Vor seinem rechten Auge entfaltete sich ein gleißendes Strahlen, wie aus Dutzenden von Flutlichtern, und mitten in dieser Schockwelle aus Licht sah Franz den Grenzverletzer stehen, eine schwarz vermummte Gestalt zwischen zwei Bäumen, die Füße bis zu den Knöcheln im Laub. Franz fand es wie immer verwirrend, mit dem einen Auge dort unten zu sein, und mit dem anderen von hier oben die Szenerie zu betrachten: einen hell leuchtenden Ball in der Herbstschwärze des nächtlichen Waldes, eine kleine Faust Licht in Richtung Südsüdwest.
»Hier spricht das Oberkommando der Grenztruppen der Vereinigten Süddeutschen Republik. Warnung! Wir machen Sie darauf aufmerksam, daß Sie im Begriff stehen, die Grenze der Vereinigten Süddeutschen Republik zu verletzen. Sie sind in Lebensgefahr. Ziehen Sie sich sofort zurück.«
Franz ließ die Maschinenstimme verklingen, bevor er ein »Verpiß dich, Arschloch!« hinterherschickte, eine gewisse persönliche Note wirkte bei den besonders Hartnäckigen manchmal Wunder. Franz sah die schwarze Gestalt im Flutlicht wanken. Er hörte sie laut atmen, wenn er gewollt hätte, hätte er ihren Herzschlag belauschen können. Nach ein paar Sekunden, die er da noch schwankend im Licht gestanden hatte, zog sich der Grenzverletzer im Krebsgang zurück, wortlos, ohne die üblichen Flüche, nur das Keuchen war hörbar, wahrscheinlich Asthma, oder was sie sich sonst für einen Dreck fingen, da oben in den verseuchten Zonen, aber auch der Atem geriet schließlich außer Hörweite, die Leuchtfelder des Kontrollpanels gingen über zu Grün, das Licht dort unten ging aus, und Franz atmete durch.
»Gute Arbeit, Ortlieb.«
»Danke, Gruppenführer.«
»Ach übrigens, Ortlieb …«
»Ja, Gruppenführer?«
»Wir haben an Ihren Werten festgestellt, daß Sie kurz vor dem Erstkontakt des Grenzverletzers um 0421 geschlafen haben. Um genauer zu sein, von 0406-21 bis 0421-05. Ich muß das melden.«
Franz schluckte trocken.
»Selbstverständlich, Gruppenführer.«
Sato Giei lief langsam durch den Korridor, der die Zendo-Halle mit den Gemächern des Roshi verband, und er war so in Aufruhr, daß er nicht einmal den wohltuenden Geruch des Zedernholzes wahrnahm, aus dem man den Korridor erbaut hatte. Rohatsu-Sesshin: seit dem 8. Dezember hatte es es für ihn wie für die anderen Mönche nichts gegeben außer Meditation, Dokusan beim Roshi, ein wenig Reisbrei und Gemüse, und soviel Schlaf wie ein Mensch brauchte, um nicht zu sterben. Hatte Shakyamuni-Buddha etwa ausgeschlafen zu der Zeit, als er unter dem Bodhibaum zur Erleuchtung erwacht war? Sato Giei war müde, und er hatte heute schon einmal Goannai hinter sich gebracht: nachdem er von seinem Roshi mit Fußtritten und Schlägen aus dem Audienzzimmer hinausgejagt worden war, weil ihm nur ein lächerlich schwaches »Ho!« zu dem Koan eingefallen war, waren der Jikijitsu und seine
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