Wind & Der zweite Versuch
stumpf werden und seine Fähigkeit zum Spiegeln verlieren würde. Er ließ den Stoff los, strich das Hemd glatt und sah den Mann an. Er hatte eine von diesen Brillen ohne Gestell. Seine Kleider waren schwarz, das konnte Benny nicht leiden. Er lächelte Frank an. Er sagte:
»Aristoteles war ein großer Mann. Er war ein Schüler von Platon.«
»Sehr gut, Benny. Sehr, sehr gut«, sagte Frank. »Kannst du dich daran erinnern, was ich dir über die Unterschiede zwischen Aristoteles und Platon gesagt habe?«
Ist das langweilig, dachte Benny. Seit zwei Wochen langweilige Kacke mit Platon und Aristoteles. Er sah auf seine Uhr und stellte fest, daß gerade Dick und Doof im Fernsehen angefangen hatte, seine Lieblingsserie mit den beiden Astronauten, die sich gegenseitig immer auf die Nase hauten und die Finger in die Augen steckten. Ihr Raumschiff hieß Basta, und sie erlebten andauernd komische Sachen mit glibbrigen Monstern und anderen Astronauten. Ich werde jetzt einen Witz machen, dachte sich Benny, dann lacht Frank wenigstens mal!
»Platon war dick, und Aristoteles war doof.«
Frank lachte wirklich, und Benny freute sich, daß er einen guten Witz gemacht hatte. Aber Frank sollte nicht glauben, daß er sich nicht erinnern konnte oder daß er faul gewesen war!
»Platon denkt, daß alle Dinger in Wirklichkeit nur Ideen sind«, sagte Benny. »Aristoteles denkt, daß alle Dinger aus vier verschiedenen Sachen gemacht sind.«
Er strengte sich an, um sich daran zu erinnern, aus was für vier Sachen alle Dinger gemacht waren. Aber er konnte sich nicht erinnern.
»Es sind vier«, sagte er trotzig. »Vier Sachen.«
»Das stimmt«, sagte Frank, »du bist sehr fleißig und ein sehr guter Schüler. Außerdem hast du ein gutes Gedächtnis, so etwas sollte man pflegen, und das tust du.«
Von nebenan kam eine Musik, Benny lauschte auf. Seine Schwester Julia übte Flöte, mit Mareen, der Musiklehrerin. Gleich würde er Musikstunde haben, und Julia dafür Denkstunde.
»Es ist gut für heute«, sagte Frank. »Wir machen morgen weiter.«
»Kommst du zu meinem Geburtstag?« fragte Benny und fühlte sich dabei ein wenig erröten. Das mochte er nicht sehr, erröten. »Ich werde nächste Woche Donnerstag sechs!«
Frank kniff bedauernd den Mund zusammen und schüttelte mit dem Kopf. »Tut mir leid, Benny, aber Donnerstag ist mein freier Tag. Ich werde dich anrufen.«
Benny fühlte Tränen in sich aufsteigen, und er mochte auch keine Tränen. »Wirst du nicht!« sagte er zu Frank.
Frank lächelte wieder und sagte: »Ich glaube schon.«
Und er stand auf. Als er gegangen war, erinnerte Benny sich daran, daß sein Vater ihm gesagt hatte, daß alle Welt weiß, daß Jungen nicht weinen. Er hörte seine Schwester flöten.
»Was haben Sie heute nacht geträumt?« fragte der Blinde Michelle.
Das graue Plättchen, mit dem sie ihm über die Herzgegend gestrichen war, hielt sie noch immer in der Hand, zur zweiten Messung, vorläufig trug sie aber schon einmal die Daten der ersten in das Krankenblatt ein. 200 zu 120, Blutdruck wie üblich sehr hoch. Der Blinde hatte seine Augen auf Michelle gerichtet, ganz so, als könne er sehen, seine Iris war von einem klaren Braun, die Augen sahen völlig normal aus, und Michelle hatte sich schon öfter gefragt, ob er sie nicht anflunkerte mit dieser Blindheit. Andererseits war seine Diabetes unbezweifelbar, und seine Augen mochten ansonsten völlig in Ordnung sein, aber sein Glaskörper war stumpf. Trotzdem wich Michelle seinem blicklosen Blick aus. Auch das schien er gemerkt zu haben, am Luftzug.
»Wenn es etwas zu Persönliches ist …«
»Nein …«
»Sie müssen es mir nicht erzählen.«
»Nein, es ist nicht zu persönlich. Es ist nur ein wenig beschämend. Ich war zu einer Art Gerichtsverhandlung vorgeladen. Angeblich hatte ich etwas gestohlen, ein Schriftstück. Ich sollte es in den Gerichtssaal mitbringen, um daraus vorzulesen, und als ich mit dem Umschlag in der Hand in den Saal trat, war er voller Zuschauer. Hunderte von Leuten, und alle waren sie alt, sehr alt, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Sie machte ein Pause, diese Erinnerung an die Hundertjährigen, die sie aus trüben Augen angesehen hatten, drückte ihr immer noch fast die Luft ab.
»Sprechen Sie weiter, bitte«, sagte der Blinde, und sie gehorchte.
»Ich wurde von dem Vorsitzenden aufgefordert, etwas aus dem Schriftstück vorzulesen. Ich zog es aus dem Umschlag, und die Blätter waren mit einer Schrift bedeckt, die ich
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