Wind & Der zweite Versuch
Anfälligkeit für Depressionen und »suizidale Tendenzen«, wie sich die Medien höflich ausdrückten, und das machte häufigen Mannschaftswechsel nötig. Hermann lachte trocken, als er wieder zum Ausgang der Halle stapfte, bei ihm hatte sich nämlich noch nie ein Reporter blicken lassen, die SIMPEX hätte das gar nicht geduldet, und wenn die SIMPEX hustete … Das trockene Lachen klang nicht gut in seinem Helm, und so ließ er es bleiben. Er fühlte sich überhaupt nicht gut heute abend, und wie immer, wenn diese trockene Kälte in seiner Kehle hochstieg, wandte er die einzige Therapie an, die er kannte. Er leierte innerlich die Vorteile herunter, die eine Anstellung als B-Fall bei der SIMPEX im Vergleich zu anderen Arbeitsplätzen mit sich brachte: Löhne, die beim Doppelten des Durchschnitts lagen, regelmäßige medizinische Untersuchungen auch für Familienangehörige (genetische Tests inklusive), freie Kost, freies Logis und last not least, der Joker, der Trumpf bei dem Ganzen: Strafnachlaß. Noch zwei Jahre Dienst hier unten für Hermann, und er konnte sich seine bürgerlichen Ehrenrechte wieder abholen gehen beim Kantonsgericht, wo er sie vor vier Jahren zur sauberen Aufbewahrung abgegeben hatte, Reisefreiheit und Säuberung des Strafregisters inklusive. Wachmänner im »Tunnel«, wie das weitverzweigte Stollensystem der SIMPEX zur Aufbewahrung des westeuropäischen Atommülls hieß, waren alle B-Fälle, »B« wie »Bewährung«. Es gab da immer mal wieder welche, die diese Arbeit freiwillig machen wollten, aber sie hielten nie länger als ein halbes Jahr durch. In Halle F2 hatte er plötzlich Schwierigkeiten mit der Atmung, und er überprüfte den Druck in seinen Gasflaschen, aber die Instrumente zeigten nichts Besonderes an: die übliche Paranoia. In der ersten Zeit seines Dienstes hier unten hatte er sich alle fünf Minuten die Strahlungswerte auf den Schirm geholt, aus lauter Angst, die Ankündigung seines Todes zu verpassen, aber mit wachsender Routine war dieses Anfängerverhalten wie bei allen anderen Wachmännern, die er kannte, dem totalen Zynismus gewichen: die Anzüge, so massiv sie aussahen, hätten einen Menschen im Fall eines ernsthaften Lecks eine Stunde vor dem Verrecken bewahrt, wenn er die Kondition eines Pferdes hatte, vielleicht zwei, im besten Fall konnte man sich mit dem Scooter noch zum Unterstand bringen und dort Alarm Rot auslösen, und das war schließlich der ganze Sinn dabei. Deswegen waren die Anzüge Gegenstand nie enden wollender Witzeleien bei den Wachmannschaften und hießen »die Sabberlätzchen«. Hermann machte seine Arbeit, und die endlose Prozession der neonbeleuchteten Hallen voller schachbrettartig angeordneter Fässer zog an ihm vorbei, eine Armee in gelben Uniformen. Manchmal sah er die Skalen in seinem Helm zucken, aber wenn er nachschaute, war es doch nur eine Fehlleistung seiner Sinnesorgane gewesen; keine besonderen Vorkommnisse. Manchmal mußte er an all das Geld denken, das er hier unten bewachte. Wie es früher Standardpreise für Fässer Öl gegeben hatte, gab es heute Standardpreise für ein Faß Atommüll, aber diese Preise machte die SIMPEX, und sie einmal zu entrichten, genügte nicht: Sie fielen jährlich an. Alle europäischen Länder hatten in den zwanziger Jahren einen gewaltigen ökonomischen Schock erlebt. Darauf waren langanhaltende und zähe Bürgerkriege gefolgt, von denen einige noch immer schwelten, wie zum Beispiel der norwegische, und die einzige Ausnahme, den Fels in der Brandung, stellte, wie schon so oft, die Schweiz dar. Sie hatte diese Sonderstellung nützen können, indem sie den atomaren Müll einlagerte, den ein Kontinent in einhundert Jahren der Kernenergienutzung angesammelt hatte, jede einzelne Tonne, gegen Bares, versteht sich. Ende der zwanziger Jahre war die überflüssige Armee, die von keinem Ausland mehr bedroht werden konnte, zu einer Polizeitruppe zusammengeschmolzen, die hauptsächlich die Aufgabe hatte, in der Schweiz auf keinen Fall solche Zustände aufkommen zu lassen wie im restlichen Europa. Und die ausgehöhlten Alpen, die bis dahin von unterirdischen Rollbahnen, Versuchsreaktoren, Anlagen zur Herstellung von Giftgas und dergleichen in Anspruch genommen worden waren, standen leer, die größte Garage der Welt. Bis die Regierung beschlossen hatte, soviel Leerstand nicht hinzunehmen und etwas Sinnvolles mit einem ausgehöhlten Gebirge anzufangen. Eine Staatsfirma war gegründet, die nötigen Gesetze neu geschaffen
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