Wind Die Chroniken von Hara 1
mich. Unserem alten Ritual entsprechend zog ich die oberste Karte und sah sie mir an. Ein Schlüssel. Ich zeigte sie ihr.
»Vergangenheit?«, fragte sie. »Oder Zukunft?«
»Zukunft.«
»Die nahe oder die ferne?«
»Die nahe.«
»Wähl einen Stapel.«
Ich wählte unter den zehn auf dem Tisch liegenden Stapeln den vierten von rechts. Alle anderen verschwanden nun, und Yola deckte die Karten auf.
»Du bist sehr selbstsicher, wenn du hierher zurückkommst«, sagte Yola, »wo man dich doch eigentlich für tot hält.«
»Und dumm!«, gab Khtatakh seinen Kommentar ab.
»Du wirst gesucht, Grauer. Und nicht, damit du das Geld wieder rausrückst. Moltz, Yokh und die Hexen aus der Hohen Stadt sind hinter dir her. Ganz zu schweigen von all denjenigen, die sich mit deinem Kopf ein goldenes Näschen verdienen wollen.«
»Oder gwaleich ein gwanzes gwoldenes Gwesicht.«
»Bei dem Geld, um das es da geht, könnte ich glatt in Versuchung geraten, jemandem ein Liedlein über dich ins Ohr zu säuseln.«
»Zu säuseln?« In der dunklen Ecke heulte es auf, dann folgte klirrendes Gelächter. »Du kwannst doch nur kwarächzen.«
»Auf beiden Augen sollst du erblinden, du unglückseliger Blutegel!«, brummte Yola. »Die Karten sind nicht besonders günstig, Grauer.«
Ich blickte auf den Tisch. Der Schlüssel gesellte sich zum Messer, wurde aber halb von einer Festung überdeckt, auf die sich dann ein Turm legte.
»Gibt dir diese Konstellation nicht zu denken?«, fragte Yola.
»Du weißt doch, dass ich nichts davon verstehe«, antwortete ich bloß.
»Dummkopf! Das hättest du schon längst lernen können. Irgendwas«, sie tippte mit einer der lilafarbenen Krallen auf die Festung, »hindert dich, deinen Plan in die Tat umzusetzen. Und hinter alldem steht der Turm. Mhm.« Das letzte Wort dehnte sie aus, da sie hoffte, ich würde erstaunt aufschreien. »Ich kann mich nur wundern, mein Guter, wie du es geschafft hast, die Treibjagd zu überleben, die du in dieser bedauernswerten Stadt ausgelöst hast. Selbst der alte Dummkopf Khtatakh weiß, was der Turm bedeutet. Was bedeutet der Turm, Khtatakh?«
»Er steht für die Schreitenden, o Weise!«, antwortete Khtatakh mit spotttriefender Stimme – was Yola jedoch zu überhören vorzog.
»Oh!«, brachte ich nun heraus.
Yola zischte wütend, denn sie meinte, ich bringe ihren magischen Karten nicht den gebührenden Respekt entgegen. Allerdings glaubte ich in der Tat nicht an diesen Unsinn, der mit solch bunten Bildchen verbunden war. Das ist keine Magie, sondern Scharlatanerie. Die Himmelssöhne schätzten diese Kunst jedoch sehr hoch.
»Aber es kommt noch viel schlimmer.« Yola schnalzte vielsagend mit der Zunge. »Ich habe mein Lebtag noch nie so schlechte Karten gesehen. Eine Karte legt sich auf die andere und verbindet sich mit einer dritten. Du bist ohne jede Frage der Schlüssel.«
»Wie schmeichelhaft.«
»Und dann sind da diese fünf neuen Gäste«, fuhr sie fort, nachdem sie drei Karten umgedreht hatte. »Der Wahnsinnige und zweimal zwei Messer. Und alle befinden sich in deiner Nähe.«
»Ich werde in Zukunft Augen und Ohren offen halten.«
»Und noch ein Turm! Ein weißer!«
»Sind das nicht zu viele Schreitende?«, fragte ich.
»Du musst da was verwekwaseln, Kwükwen«, mischte sich jetzt Khtatakh ein. »Du sagwast doch selbst immer, dass es nur einen Turm gwibt.«
»Ich verwechsle überhaupt nichts. In dieser Kombination ist es möglich.«
»Dumme Kwarähe«, stichelte Khtatakh weiter.
»Schweig stille, du Blutegel!«
»Was ist jetzt mit diesen Kwarten?«
»Der weiße Turm braucht nicht unbedingt auf die Schreitenden zu deuten. In dieser Position kann er auch als das Leben verstanden werden, als eine Tugend, Gesundheit oder auch als ein Priester, ein Medikus oder eine Frau.«
»Oder tausend andere Bedeutungwen haben«, höhnte Khtatakh.
Yola schnaubte verächtlich. Ihre Finger bewegten sich mit unvorstellbarer Schnelligkeit. Die nächsten Minuten verteilte sie die Karten, bis der Tisch mit ihnen übersät war. Sie deckte sie auf, legte eine zur anderen, schob sie um, legte sie zusammen und wieder auseinander, bis sie die abschließende Variante endlich gefunden hatte.
»Interessant, findest du nicht auch?« sagte sie zu mir.
O ja, das war in der Tat interessant. Es hatte sich nämlich einiges geändert.
Der Weg vom Schlüssel zum ersten Messer wurde noch immer von der Festung versperrt. Über all dem schwebte der Turm. Dicht neben dem Schlüssel lagen
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