Wind Die Chroniken von Hara 1
Soldaten lagerte, dann würde ich meine rechte Hand verwetten, dass es auf der anderen Seite noch mal so viele waren. Wenn nicht mehr.
Trotz der sengenden Sonne untersuchte die Wache hartnäckig jeden Wagen. Eine angemessene Vorsichtsmaßnahme, wenn man mich fragte. Das Reich der Tiefe wusste, was uns die Nekromanten alles auf den Hals schicken konnten. Untote oder diese Fische zum Beispiel. Und wenn so ein Fisch in der Hohen Stadt barst, gäbe das ein schönes Schlamassel.
Ich reihte mich in die Schlange ein, in der es nur langsam vorwärtsging. Begeistern tat mich das selbstverständlich nicht, aber ich zog es doch vor, brav zu warten. In meinem Fall empfahl es sich nicht, die Aufmerksamkeit der Soldaten auf mich zu lenken.
Auch hier gab es nur ein Thema: den Krieg. Ein Gerücht jagte das nächste. Wilde Vermutungen waren zu hören, warum Alsgara bislang verschont geblieben war. Dann waren da noch die Fragen, die alle beunruhigten: Würden die Armee und die Schreitenden die Stadt schützen können? War damit zu rechnen, dass der Feind an der Treppe des Gehenkten durchbrach und in die zentralen Provinzen des Imperiums oder nach Korunn, der Hauptstadt, vordrang? Nach einer Weile hingen mir diese Gespräche zum Hals heraus.
Als nur noch fünf Leute vor mir warteten, sah ich etwas, das mir sofort hätte auffallen müssen. Hinter den würfelnden Armbrustschützen stand, im Schatten eines der beiden massiven Torflügel verborgen, eine ältere Frau in einem blauen Umhang mit einem roten Kreis auf der Brust. Sie unterhielt sich mit dem Hauptmann der Wache und warf immer mal wieder einen Blick auf die an ihr vorbeiziehenden Leute.
Eine Schreitende!
Was hatte die hier verloren?! Denn wenn ich mich von jemandem fernhalten sollte, dann von diesen Trägerinnen des Funken. Selbst wenn mittlerweile sieben Jahre verstrichen waren. Aber manche Menschen verfügen nun mal über ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Davon hatte ich mich ja gerade erst überzeugen können, als sich mir dieser kleine Dreckskerl an die Fersen geheftet hatte. Der hatte mich auch nur ein einziges Mal gesehen, mich aber trotzdem wiedererkannt – und das sogar, obwohl ich seit unserem Aufbruch aus Hundsgras einen Bart bekommen hatte.
Aber wenn ich die Schlange jetzt verließ, würde ich ganz gewiss die Blicke aller auf mich ziehen.
»Wer bist du?«, fragte mich der Soldat mit müder Stimme. »Wo kommst du her? Wohin willst du?«
Jetzt war es zu spät, noch Fersengeld zu geben.
»Ein Zimmermann. Pars ist der Name. Ich komme aus dem Süden. Ein Bekannter hat mich eingeladen.«
Ich nannte den Namen eines nicht allzu hohen Würdenträgers aus dem Stadtrat. Wie vermutet, ersparte mir das peinliche Fragen.
»Du kennst den Weg?«
»Ich bin nicht das erste Mal hier.«
»Dann durch mit dir.«
Ich dankte ihm und betrat den kühlen Tordurchgang. Die Schreitende musterte mich aus den Augenwinkeln, während sie sich mit dem Hauptmann unterhielt. Ich atmete erleichtert durch. Sie suchte vor allem nach Trägern der Gabe, folglich galt erst ihr zweiter Blick den Gesichtern. Glück gehabt.
Der Tordurchgang war ausgesprochen lang. Unter der Decke gab es kleine Brücken für Bogenschützen, falls der Feind die Torflügel aus den Angeln heben würde. Schießscharten in den Mauern und zwei Stahlgitter, die notfalls heruntergelassen werden konnten, stellten weitere Sicherheitsvorkehrungen dar. Mit fünfzehn Schritt durchmaß ich den Gang, passierte das innere Tor, das ebenso beeindruckend war wie das äußere, und fand mich in der Äußeren Stadt wieder. Hier gab es tatsächlich genauso viele Soldaten wie auf der anderen Seite. Die würden der Schreitenden sofort zu Hilfe eilen, sollte es draußen zu einer Schlägerei kommen. Oder man ließe einfach die Gitter herunter.
Meine geliebte Stadt durfte also ruhig schlafen. Noch.
Der Ort, zu dem ich wollte, lag hinter der zweiten Mauer, die sogenannte Vogelstadt. Sie verdankte ihren Namen der Tatsache, dass hier seit Langem die Ye-arre lebten. Ihre Häuser zogen sich von der Spitze eines gewaltigen Hügels bis zum Meer hinunter.
Die Ye-arre liebten es einfach zu bauen, und eine besondere Leidenschaft hegten sie für Türme aller Art: wuchtige, aparte, hohe, gedrungene, mit Helm und ohne, steinerne, hölzerne, vollendete und noch im Bau befindliche. Fast alle dreißig Yard erhob sich ein solcher Bau. Wie sagten doch scharfzüngige Menschen manchmal? Nach der Zahl der Türme übertraf die Vogelstadt längst die Hohe Stadt.
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