Wind Die Chroniken von Hara 1
»Bis Yokh einen Preis auf den Kopf des Grauen ausgesetzt hat, habe ich tatsächlich geglaubt, er und Lahen seien tot. Vor sieben Jahren wurden in einem Schuppen zwei verkohlte Leichen gefunden. Alle – also auch ich – haben angenommen, Ness sei am Ende doch ein paar allzu hitzigen Burschen in die Arme gelaufen. Aber jetzt … Allmählich dämmert mir, dass er das alles von langer Hand vorbereitet hat. Denn zu der Zeit, als unser Freund angeblich gestorben ist, hat es einen Mord gegeben, der gewaltiges Aufsehen erregt hat. Das Opfer wurde von einem Pfeil getroffen. Es war ein meisterlicher Schuss. Einer, wie er besser nicht möglich ist. Der Schütze lauerte an einem Ort, von dem aus man nur trifft, wenn Meloth selbst deine Hand führt. Und mir fällt nur ein Schütze ein, der dazu imstande wäre: Ness.«
»Du glaubst also, der Graue hat das Ziel umgebracht, alle an der Nase herumgeführt, sich seine Freundin geschnappt und das Weite gesucht?«
»Richtig. Übrigens hat er immer mit Lahen zusammengearbeitet.«
»Sag mal, täusche ich mich, oder fürchtet ihr sie weitaus mehr als diesen Wunderschützen?«
Unwillkürlich verzog Knuth das Gesicht. Gnuzz hatte doch recht. Dieser Shen raubte einem mitunter wirklich den letzten Funken Verstand.
»Sie verschmurgelt dir das Hirn, bevor du überhaupt das Schwert blankgezogen hast.«
»Das schaffen alle Frauen«, erwiderte Shen lachend.
»Ich meine es ernst. Sie ist die Einzige in unserem Metier, die über die Gabe verfügt. Alle glauben, das bedeute lediglich, Lahen könne reden, ohne den Mund aufzumachen. Aber als ich das eine Mal mit dem Grauen zusammengearbeitet habe, durfte ich miterleben, wie sie einem Kerl den Kopf in die Luft gejagt hat.«
»Was soll das heißen?«, fragte Shen. »Ist sie eine Schreitende?«
»Nein.«
»Eine Glimmende?«
»Ich weiß es nicht. Und auch sonst weiß es niemand. Sie verfügt über die Gabe – und Schluss. Was spielt es da für eine Rolle, wer oder was sie ist? Aber genug geplaudert, wir werden erwartet.«
Sie verließen die Schenke und schlugen den Weg zu Ness’ Haus ein. Shen schwieg nachdenklich, und Knuth bedauerte bereits, so offenherzig gewesen zu sein.
»Wer war das Ziel?«, fragte Shen nach einer Weile.
Knuth sah ihn verständnislos an.
»Wen hat Ness ausgeschaltet, dass er danach Hals über Kopf fliehen musste?«
»Eine Schreitende«, antwortete Knuth und ging weiter, ohne sich auch nur um Shen zu kümmern, dem vor Verblüffung der Unterkiefer herunterklappte.
Pork stapfte durch den Wald und nagte genüsslich an einem Honigküchlein. Seine Hosentaschen waren prallvoll mit Süßigkeiten. Die hatte er von dem Geld gekauft, das ihm dieser gute Onkel geschenkt hatte. Der, der auf einem Ritterpferd saß, aber selbst kein Ritter war. Trotzdem war er gut. Genau wie das Pferd. Und das Schwert. Außerdem war er ein Freund von Pork. Jawoll. Ein richtig dicker Freund. Für diesen Onkel würde Pork alles machen. Dem würde er sogar ein Küchlein abgeben. Ein halbes jedenfalls. Oder – nein! Ein ganzes! Auch wenn die Kinder im Dorf immer sagen, er sei gierig und dumm! Das war gelogen! Erstunken und erlogen! Damit machten sie sich nur über ihn lustig! Deshalb würde er ihnen auch nie etwas von seinen Naschereien abgeben! Niemals! Warum auch? Die würden ihn ja doch bloß wieder mit Dreck beschmeißen. Dann wäre sein Hemd schmutzig. Und Ritter würden sie auch nicht mit ihm spielen. Aber wenn Pork erst mal von zu Hause weglief und ein echter Ritter wurde, dann würde er es allen zeigen. Die würden noch platzen vor Neid.
Er steuerte auf seine Lieblingswiese neben dem wilden Bach zu, auf der er in aller Ruhe seine Süßigkeiten verschmausen konnte, ohne Angst haben zu müssen, dass ihn jemand entdeckte. Dann nämlich würden sich alle um ihn herum aufbauen und anfangen zu jammern: Pork, gib uns was ab! Mach schon, Pork, wenigstens ein kleines Stückchen! Du bist doch so ein lieber Junge!
Pah! Darauf konnten die lange warten!
Pork trat verärgert nach einem Pilz in seiner Nähe, sodass dessen Hut in die Luft flog, gegen den Baumstamm prallte und in unzählige Stücke zerfiel.
»Jawoll!«, stieß er begeistert aus.
Wie großartig diese Pilze doch durch die Luft sausten und zerschellten! Viel besser als die Steckrüben der alten Rosa. Pork hielt im Gras nach weiteren der auffälligen roten Hüte Ausschau, fand aber keine.
Enttäuscht schnaubte er, trat auf die Lichtung – und wich sofort zurück. In den Schutz der
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