Windbruch
seiner
Kinder- und Jugendtage erfüllt hatte, so waren ihm in letzter Zeit doch Zweifel
gekommen. Denn bekanntlich ist ein Traum nur so lange aufregend, wie er anhält.
Wird er dann plötzlich Realität, kann man sich zwar für eine Weile daran
erfreuen, aber schließlich ist auch er Alltag. Und dann? Dann muss ein neuer
Traum her, für den es sich zu leben und zu arbeiten lohnt. Mit Ende dreißig
aber war Maarten an einem Punkt, an dem er, würde ihn jemand nach seinem Traum
fragen, keine Antwort wüsste. In den letzten Wochen kannte er nur noch ein
Gefühl: Müdigkeit. Und er hatte zum ersten Mal in seinem Leben die Erfahrung
machen müssen, dass es verdammt schwer war, durchschnittlich sechzehn Stunden
am Tag hellwach und strebsam zu wirken. Immer wieder hatte er in Sitzungen und
Symposien plötzliche Gähnanfälle bekommen und irritierte Blicke, wenn nicht gar
Kopfschütteln auf sich gezogen. Peinlich, aber er konnte nichts dagegen tun. Er
war ausgepowert. Sein Körper sendete eindeutige Signale. Er forderte ihn
unmissverständlich auf eine Pause einzulegen.
Doch noch deutlicher als sein
Körper war Franziska geworden, als sie zwei Tage, nachdem die Einladung von
Jule angekommen war, das Fax in dem Stapel Papier gefunden hatte, der für den
Reißwolf bestimmt war. Sie hatte ihren Chef mit zusammengekniffenen Augen
wortlos angeschaut, das Bild mit in ihr Büro genommen und es wenig später
wiedergebracht. Aber nun hatte das Fax Gesellschaft bekommen, nämlich von einem
Zettel auf dem stand, der Flug nach Bremen über Frankfurt sei für den 16.
August gebucht, Rückflug am 15. September. „Ihre Schwester freut sich riesig,
dass Sie zu ihrer Hochzeit kommen. Sie konnte es kaum glauben. Aber ich habe
ihr gesagt, dass Sie es gar nicht erwarten können, die Heimat mal wieder zu
sehen und ein Krabbenbrot zu essen,“ hatte seine Assistentin ihm im gleichen
Tonfall zur Kenntnis gegeben, als würde sie ihm mitteilen, dass in der Sahara
die Sonne scheint. Und im Übrigen habe sie schon all seine Termine in diesem
Zeitraum auf seine Stellvertreter umgeschichtet.
Und nun saß er also hoch über dem
Atlantik in der Business-Klasse des Lufthansa-Fluges 7602 von New York nach
Frankfurt. Er würde die Hochzeit seiner Schwester feiern. Aber auf keinen Fall
würde er bis Mitte September bleiben. Dat is so kloor asn Doornkaat –
hatte sein Opa immer gesagt.
3
Das erste, was Maarten auffiel,
als er vor der Tür seines Elternhauses aus dem Taxi stieg, war die frische
Luft. Sogleich reckte und streckte er seine vom langen Sitzen steif gewordenen
Gliedmaßen und atmete tief durch. Er hatte ganz vergessen, wie frisch es
hier in Ostfriesland roch. Wenn er es sich richtig überlegte, hatte er, da er
sich hauptsächlich in den Metropolen dieser Welt bewegte, schon sehr lange
nicht mehr tief durchgeatmet und dabei das Gefühl gehabt, seine Lungen würden
soeben einer Tiefenreinigung unterzogen. Und so setzte er seine
Inhalationseinheit gleich noch intensiver fort, hob und senkte dabei seine Arme
und zog abwechselnd die Knie an.
Maarten war so sehr mit seinen Leibessübungen
beschäftigt, dass er zusammenzuckte, als sich neben ihm jemand hörbar
räusperte. „Ich störe Sie ja nur ungern beim … na ja … was auch immer Sie da
gerade tun, aber ich müsste dann mal weiter“, sagte der Taxifahrer, und seinem
Blick war zu entnehmen, dass er Maarten für einen esoterischen Spinner oder
ähnlich Seltsames hielt.
„Ähm, ja“, stotterte Maarten und
er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Schnell zückte er sein
Portemonnaie und gab dem Fahrer über den reinen Fahrpreis hinaus noch ein
üppiges Trinkgeld. Als das Taxi fort war, stellte Maarten seinen Koffer vor das
Gartentor seiner Eltern. Noch schien seine Ankunft keiner bemerkt zu haben. Da
er niemandem mitgeteilt hatte, wann genau er ankommen würde, vermutete er nach
einem Blick auf seine teure Armbanduhr, dass seine Mutter vermutlich gerade das
Mittagessen vorbereitete, während sein Vater im Gemüsegarten werkelte, wie er
es bei jeder Gelegenheit tat, seit er in Rente war. Er schaute die Straße
entlang, die ihm seit Kindertagen so vertraut war. Kein Mensch war zu sehen.
Nichts schien sich verändert zu haben im Dieksweg. Ostfriesische Idylle pur.
Rote Klinkerhäuschen standen, aufgereiht wie an einer Perlenschnur, beidseitig
der schmalen, ebenfalls mit roten Klinkersteinen gepflasterten Straße. In den gepflegten,
mit Hecken oder Zäunen eingefassten Vorgärten, die
Weitere Kostenlose Bücher