Windkämpfer
Wasser. Das war Diadrelu, die Frau, die gesprochen hatte und die alle anderen halb unbewusst aus dem Augenwinkel beobachteten.
Nun wischte sie sich die Hände ab und stand auf. Einer der Männer wollte ihr Wein reichen, aber sie schüttelte den Kopf, trat an den Rand des Bretts und schaute über den Hafen.
»Seht Euch vor, dass Ihr nicht ausrutscht, Lady Diadrelu«, murmelte der Wächter.
»Oppo, Sir«, antwortete sie, und ihre Leute lachten. Aber der junge Mann, der als Erster gesprochen hatte, schüttelte mit finsterer Miene den Kopf.
»Arqual-Worte! Ich will sie bis an mein Lebensende nicht mehr hören!«
Die Frau antwortete nicht. Sie horchte auf den Jungen, der über ihnen »Kapitän Nestef! Kapitän, Sir!« rief, bis ihm die Stimme brach und er nur noch schluchzen konnte. Heimatlosigkeit. Wie konnte jemand, der diesen Zustand kannte, kein Mitleid empfinden?
In sechzig Fuß Entfernung blitzte ein Licht auf: Der alte Fischer kochte sich an Deck seines Lunket aus zusammengenähten und über ein Holzgerüst gespannten Tierhäuten sein Frühstück aus Haferbrei mit Garnelenköpfen. Auch Lunket war ein Arqual-Wort. Ebenso wie das Wort, das Diadrelu aus allen Sprachen am meisten liebte: Idrolos, der Mut zu sehen. In ihrer eigenen Sprache gab es keine Entsprechung dafür. Und wie leicht entschlüpft ein Begriff, wenn es kein Wort gibt, das ihn festhält! Dieser alte Mann wusste, was Idrolos war: Er hatte den Mut aufgebracht, das Gute in ihrem Volk zu sehen, das ihm bei Nacht die fadenscheinigen Segel flickte und die Lecks in seinem Schiffsrumpf abdichtete. Und das Sehen hatte ihm den Mut verliehen, sie, ihre vier Clans, bis hierher zu bringen. Vier Nächte lang war er zum Fang ausgefahren und hatte so getan, als hörte er sie nicht im Bauch seines Schiffes und sähe sie nicht vom Heck springen, wenn er in Sorrophran anlegte. Sie hatten kein Wort miteinander gesprochen, denn Ixchel zu befördern war ein todeswürdiges Verbrechen. Nur der Fischer und Diadrelu wussten, dass sie sich eines Nachts auf seinen Nachttisch gestellt und ihn geweckt hatte, um ihm eine blaue Perle zu zeigen, die größer war als ihr Kopf und mehr wert, als er in zwei Jahren verdienen konnte, wenn er seine Netze vor der Küste auswarf.
»Kommt mit dem Essen zu Ende«, befahl sie dem Clan, ohne sich umzudrehen. »Es wird bald hell.«
Alle verstummten gehorsam und aßen weiter. Diadrelu war froh über ihren gesunden Appetit: Wer wusste schon, wie knapp es in den kommenden Monaten zugehen würde? Gut war es auch, einen Befehl gefunden zu haben, dem Taliktrum ohne Murren gehorchen konnte. Ihr Neffe war wirklich unverschämt. Schnupperte schon jetzt an der Macht, von der er annahm, dass sie ihm einmal zufallen würde. Womit er natürlich Recht hatte. Wenn ihre Gruppe sich mit der Gruppe ihres Bruders Talag vereinigte, würden sie beide gemeinsam das Kommando übernehmen, und Taliktrum würde der erste Stellvertreter seines Vaters sein.
Sie dachte daran, wie der Junge vor zwanzig Jahren auf Schloss Ixphir zur Welt gekommen war. Eine schwere Geburt, eine Qual für ihre Schwägerin, die so laut geschrien hatte, dass die Obere Wache einen Boten mit der Warnung schickte, die Doggen auf der Schwelle der Riesen legten schon die Köpfe schief. Als er endlich herauskam, hatte er wie alle Neugeborenen bei den Ixchel die Augen offen, aber er hielt auch die Nabelschnur mit den Händen umklammert: ein Zeichen, das je nach Legende für große Tapferkeit oder auch für Tollheit stehen konnte. Klein Taliktrum – Triku hatten sie ihn genannt, obwohl er schon bald sogar seiner Mutter diesen Spitznamen verbot. Ob er ihr wohl auch noch gehorchen würde, wenn sein Vater zu ihnen stieß? Ja, bei Rin, sie würde schon dafür sorgen.
Sie trat neben den Wächter und streckte die Hand nach seinem Speer aus.
»Der letzte Fischerkahn läuft soeben ein, Lady Diadrelu«, sagte er. »Wir haben auch schon einen Weg gefunden.«
Sie nickte. »Geh jetzt essen, Nytikyn.«
»Da ist eine Krabbe, Lady Diadrelu.«
Diadrelu nickte, dann legte sie ihm die Hand auf den Arm und hielt ihn zurück. »Nur Dri und du«, bat sie. Dann wandte sie sich den anderen zu.
»Ihr Neuankömmlinge glaubt mir nicht«, sagte sie. »Und ich weiß, dass in Ost-Arqual, wo die meisten von euch aufgewachsen sind, andere Sitten und Gebräuche herrschen. Aber was ich vergangene Nacht sagte, war ernst gemeint. Von jetzt an sind wir alle ein Ixchel-Clan – ganz einfach. Und bis zum nächsten
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